Radek hatte mir als Treffpunkt den Platz vor dem Altstädter Rathaus vorgeschlagen, das könne ich nicht verfehlen. Den Rathausplatz fand ich auch ohne Probleme, doch wie sollte ich Radek in der riesigen Menschenmenge erkennen, die auf das Glockenspiel wartete? Mir wurde bewusst, dass ich ihn mir gar nicht so genau angeschaut hatte. Glücklicherweise erkannte Radek mich. »Wir werden uns zuerst Überblick verschaffen«, kündigte mein privater Stadtführer an. Und dann führte mich Radek abseits aller Touristenströme durch seine Stadt. Wie groß Prag eigentlich ist, wurde mir erst klar, als ich von der Aussichtsplattform des supermodernen Fernsehturmes auf das Häusermeer unter mir blickte. Bis zum hügeligen Horizont Fassaden und Dächer in der flirrenden Sommerhitze, unterbrochen nur durch das frische Grün der Parkanlagen, im Norden durch die Moldau in zwei Hälften geteilt.
Bis es dunkel wurde, gingen wir durch die Straßen, hielten hier und da an kleinen und großen Sehenswürdigkeiten inne. Wir fuhren mit der Straßenbahn eine große Runde durch die Innenstadt. Dabei redeten wir miteinander wie alte Bekannte. Abends standen wir an der Schiffsanlegestelle unterhalb der Manesuv-Most. Inzwischen hatte ich gelernt, dass es sich bei »Most« nicht um ein Getränk, sondern um das tschechische Wort für Brücke handelt. Und dass man hier »Ahoi« statt »Hallo« sagt. Lustig, ein Seemannsgruß in einem Land ohne Meer. Auf einem Werbeplakat wurde eine Lichterfahrt mit Abendessen angeboten. »Sehr schön, aber ziemlich teuer«, meinte Radek. Im ersten Moment wunderte ich mich darüber, denn ich fand den Preis nicht zu hoch. Kurz entschlossen kaufte ich zwei Tickets und lud Radek ein. So etwas hatte ich bisher noch nie gemacht: Einen Mann eingeladen.
Wir ergatterten einen tollen Platz ganz vorne auf dem Oberdeck. Es war wirklich wie in diesen kitschigen Filmen. Romantischer Lichterglanz, leise Musik, gutes Essen, ein gut aussehender Mann an meiner Seite. Allerdings ging die Filmregie nicht in gewohnter Weise weiter. Inzwischen hatte ich mir Radek genauer angeschaut. Dunkle kurze Haare, braune Augen, modern geschnittenes Bärtchen – hätte er eine dunklere Hautfarbe, könnte man ihn auf den ersten Blick für einen Südländer halten. Was mich jedoch von Anfang an faszinierte, waren seine Hände. Schmal, aber trotzdem kraftvoll und ausdrucksstark. Hände sagen viel über einen Menschen aus. Diese Hände könnten zu einem Künstler gehören, einem Architekten oder Bildhauer, einem Dichter …
»Jael«, unterbrach er meine Gedanken, «du hast jetzt das Haus gefunden, aber noch nicht Großmutter. Weißt du schon, wie du weiter suchen musst?« Nein, das wusste ich nicht so genau. Ich hatte nur noch die Adresse von Elias Cukerman und den Besuch bei Else in der Hinterhand. »Ich glaube, ich kann dir vielleicht helfen. Fast alle Juden aus Prag wurden ab 1941 nach Terežin – Theresienstadt – gebracht. Es gibt Listen mit Namen und ich kenne jemand, der an diese Listen herankommt. Wenn deine Großmutter in Terežin war, steht sie auf Liste.« Ja, das wäre einen Versuch wert. Gleich am nächsten Tag wollte sich Radek nach dem Ehepaar Jakub und Jael Winterstejn erkundigen. Ich hatte natürlich nicht nur eine Großmutter, sondern auch einen Großvater. Doch ich wusste nur seinen Namen. Es gab nicht einmal ein altes Foto von ihm in meiner Schuhschachtel.
»Terežin ist nicht weit. Wenn du Zeit hast, können wir dorthin fahren«, schlug Radek vor.
Da hatte er einen wunden Punkt getroffen. Schon einmal hatte ich ein KZ besucht – Dachau, anlässlich eines Schulausfluges. Meine Klassenkameraden wussten über meine jüdischen Wurzeln Bescheid und irgendwie schien jeder zu erwarten, dass es für mich ganz besonders schlimm sein müsste, das Konzentrationslager zu besichtigen. Natürlich fand ich es scheußlich, aber tief in meinem Innersten hatte es nichts mit mir zu tun. Wie meine Schuhschachtel zu Hause auf dem Regal. Während einige meiner Schulkameradinnen sich vorübergehend schämten, Deutsche zu sein, schämte ich mich insgeheim, nicht jüdisch genug zu empfinden.
Radek interpretierte mein Zögern wohl auch falsch. Er versicherte mir, Terežin wäre zwar sehr schlimm, aber nicht so schlimm wie Auschwitz gewesen. Plötzlich tauchte in meinen Gefühlen jedoch eine ganz neue Entscheidungskomponente auf. Ich wollte Radek gerne wiedersehen. Ich wollte ihn sogar sehr gerne wiedersehen. Also gut, dann auf nach Theresienstadt.
In Tschechien waren gerade Sommerferien, das erklärte Radeks Freizeit mitten in der Woche. Allerdings habe er einen Nebenjob, erklärte er mir. Radek arbeitete als Übersetzer für eine Firma und daher konnten wir erst einen Tag später nach Theresienstadt fahren. Das Thema Arbeit erinnerte mich unangenehm an die Regenschirm-Fotos in meinem Gepäck.
Am nächsten Morgen machte ich mich auf, Inspirationen einzufangen. Glauben Sie mir, das war gar nicht so einfach bei 28 Grad Hitze und strahlendem Sonnenschein. Ich will mich nicht herausreden. Was meine Gedanken tatsächlich immer wieder ablenkte, war etwas anderes. Ob Radek heute wohl mehr über meine Großeltern in Erfahrung bringen würde? Ich dachte an Jakub und Jael Winterstejn. Waren sie wohl auch schon diese Straße entlang gelaufen? Hatten sie auch in der Altneusynagoge gebetet, in der ich jetzt staunend stand? Vermutlich ja, das konnte ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen. So schlenderte ich lange Zeit versonnen durch die Gassen der Altstadt und des jüdischen Viertels. Müde und durstig landete ich schließlich in einem der zahlreichen Kaffeehäuser der Altstadt. Dieses war ganz im Sinne seines Namens Le Colonial eingerichtet: Ich fühlte mich in den Film »Jenseits von Afrika« versetzt. Die besten Ideen hat man oft, wenn man nicht krampfhaft nach ihnen sucht. Von meinem Fensterplatz aus entdeckte ich am Haus gegenüber eine wunderschön gestaltete weiße Fassade. Ich zeichnete die kleinen dicken Engelchen, Ornamente und Weinranken in mein Skizzenbuch. Dann malte ich noch einen dieser knuffigen Engel und drückte ihm zum Spaß statt Weinranke einen Regenschirm in die Hand. Plötzlich hatte sich meine innere Kreativschleuse geöffnet und innerhalb kurzer Zeit war mein Buch voller brauchbarer Entwürfe. Nun konnte ich mir für den Rest meines Pragaufenthaltes Urlaub genehmigen.
Theresienstadt oder Terežin, wie es heute heißt, ist ein merkwürdiger Ort. Wie soll ich ihn am besten beschreiben, ohne Sie mit historischen Details zu langweilen? Es handelt sich nicht um eine gewachsene Siedlung, sondern um eine zu Habsburger Zeiten mitten in die Landschaft gebaute Garnisonsstadt. Haben Sie zufällig Ausstechförmchen für Weihnachtsplätzchen zu Hause? Wenn Sie sich eine Sternform vorstellen, sind Sie der Sache schon ganz nahe. Terežin wird akkurat sternförmig von dicken Mauern und Wehrgräben eingeschlossen. In der Mitte findet sich ein großer Platz, heute Park, früher Exerzierplatz, während rundherum schachbrettartig Straßenzüge mit Häuserblocks verlaufen, die immer noch an Kasernen erinnern. An verschiedenen Stellen der Stadt findet man Museum und Gedenkstätten, dazwischen leben Menschen ihren ganz normalen tschechischen Alltag.
Als ich aus dem Auto stieg, war der Himmel so bleischwer blau wie damals über Dachau.
Radek war schon öfter in Terežin gewesen. Er hatte mit seinem schwarzen Škoda Octavia zielstrebig zuerst das Museum in der Innenstadt angesteuert. Vorher hatte ich schon eine Enttäuschung verkraften müssen. Radeks Freund war in Urlaub. Ob meine Großeltern wirklich in Terežin interniert waren, würde sich frühestens in drei Wochen klären. Während wir von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum gingen, wurde mein Herz immer schwerer. Für viele Prager Juden war Theresienstadt nur eine Durchgangsstation. Sie wurden zur »Endlösung« in andere Lager wie Auschwitz oder Riga gebracht. Während ihrer Zeit hier, akkurat getrennt nach Männern, Frauen, Mädchen und Jungen, versuchten die Häftlinge, ein soziales Umfeld zu schaffen: Die Selbstverwaltung organisierte Schulunterricht, Konzerte und Aufführungen. Hier in Theresienstadt waren berühmte Komponisten, Musiker, Literaten und Maler inhaftiert. In der Ausstellung konnte man ihre Bilder bewundern und Originalaufnahmen der Konzerte anhören. Kultureller Feingeist gegen Menschenverachtung. Der Feingeist musste damals den Kürzeren ziehen, hatte aber den Häftlingen ihre Würde bewahrt. Was sich in den Köpfen der Aufseher abspielte, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
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