Donna ist meine Stiefschwester, wir haben den gleichen Vater – Paul Graham. Er war Dirigent eines bekannten Kammerorchesters und liebte zwei Frauen. Mit Donnas Mutter ist er verheiratet. Hanna Winterstejn spielte eine Zeit lang die erste Geige in besagtem Orchester, aber nicht im Leben von Paul Graham. Besser gesagt: Meine Mutter lehnte seine Heiratsanträge kategorisch ab, selbst nachdem ich geboren war. Schließlich kapitulierte mein Vater und heiratete Helen, eine englische Opernsängerin. Helen wusste von Anfang an Bescheid, denn mein Vater kümmerte sich finanziell um mich und besuchte uns auch regelmäßig. Doch dann wehte der Hauch der Vorsehung über das Leben meiner Mutter und brachte diesmal den Geruch des Todes mit sich. Leukämie machte mich im Alter von sechs Jahren zur Waise und nun geschah ein echtes Wunder: Ich wurde in die Familie meines Vaters aufgenommen. Alle Vorbehalte waren angesichts meines Schicksals verflogen. Donna war damals drei Jahre alt und freute sich wohl über die nun dauernd zur Verfügung stehende Spielgefährtin. Genau wie ich nannte sie ihre Mutter »Helen« und den Vater »Paul«. Wir wuchsen in einer unkonventionellen, von den 68ern geprägten, Künstlerfamilie auf.
Tim und Tom hüpften in einer Art Indianertanz um mich herum. »Tante Jael, wir gehen in ein Esstaurant«, kreischten sie dabei immer wieder. Endlich erbarmte sich Gerald, schnappte Tim am Arm, was auch Tom veranlasste aufzuhören, weil ein Solo-Indianertanz nur noch halb so viel Spaß macht. »Es heißt Restaurant!«, klärte Gerald seine Sprösslinge auf. »Und jetzt lasst Jael mal in Ruhe.« »Aber wenn man doch dort was essen tut, dann muss es doch Ess-taurant heißen?«, maulte Tim, immer noch unter den väterlichen Arm geklemmt. »Vielleicht gibt es Reste zu essen, eklige alte Fischstäbchen oder Gummipommes!«, jubilierte Tom, »deswegen heißt es Rest-aurant.« Gerald seufzte, ließ Tim los und die Jungs flitzten Richtung Stall.
Donna und Gerald sahen wirklich geschafft aus. Der Tag sei schön gewesen, aber die Jungs hätten wieder mal perfekt dafür gesorgt, dass keine Langeweile aufkam. Wir beschlossen, uns etwas vom Pizzaservice bringen zu lassen und auf den Besuch im Gasthaus zu verzichten. »Wahrscheinlich waren die Reste alle …«, meinte Tim altklug zu seinem Bruder. Somit war der Abend gerettet und als die Zwillinge in ihren Stockbetten lagen, konnte ich endlich in Ruhe von meinem Erlebnis berichten.
Donna und Gerald waren ebenfalls ergriffen. Wir sahen uns das Foto des Grabes auf Geralds Laptop an. Und wieder schlug mein Herz heftig, als ich las »Jael Winterstejn, 1916–1978«. Sie war in meinem Geburtsjahr gestorben.
»Sie ist hier beerdigt, also können uns die Leute auf der Stadtverwaltung sicher mehr darüber sagen«, meinte Gerald. So beschlossen wir, am nächsten Tag der Stadtverwaltung einen Besuch abzustatten. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Im Traum lief ich durch die düster erleuchteten Gassen einer fremden Stadt. Ich wollte unbedingt eine Gestalt einholen, die einige Meter vor mir lief. Egal, wie ich mich bemühte – der Abstand blieb gleich.
Am nächsten Vormittag begleitete mich Gerald in die Stadt. Ich war froh, dass er die Sache in die Hand nahm – als Beamter gelang es ihm auf Anhieb, die zuständige Person in diesem Bürolabyrinth aufzuspüren. So traten wir nach knapp einer Stunde wieder hinaus ins Sonnenlicht. In meiner Hand hielt ich einen kleinen gelben Zettel mit einer 30 Jahre alten Adresse aus Israel.
Der Standesbeamte – einer von der Sorte »lustiger Rheinländer« – fand unser Anliegen interessant. Nicht nur, dass er wegen uns in die staubigen Katakomben des Archives abtauchte, nein, er telefonierte sogar mit seinem Vorgänger. Der konnte sich an diesen besonderen Fall »Jael Winterstejn« noch düster erinnern. Frau Winterstejn war auf der Durchreise plötzlich schwer erkrankt und im örtlichen Krankenhaus gestorben. Ihr Begleiter, laut Akten ein gewisser Elias Cukerman, wollte die Leiche nicht nach Israel überführen lassen und da es keine weiteren Angehörigen gab, wurde Jael Winterstejn nach seinen Wünschen auf dem örtlichen Judenfriedhof in aller Stille beigesetzt. Dort war seit 1941 niemand mehr beerdigt worden, denn auch das idyllische Städtchen am Rhein war damals gründlich »rassisch gesäubert« worden.
Warum diese Frau Winterstejn nach Deutschland gereist war, konnte mir niemand sagen. Hatte sie womöglich nach uns gesucht? Die Adresse von Elias Cukerman aus Haifa war eine Möglichkeit, Antwort auf diese Frage zu finden. Doch die neue Gewissheit, dass diese Jael Winterstejn in Prag geboren wurde, erschien mir ungleich bedeutsamer. Denn auch meine Mutter kam in dieser Stadt zur Welt.
Die restlichen beiden Urlaubstage verbrachte ich mit langen Spaziergängen. Ich war innerlich aufgewühlt. Am letzten Abend saß ich vor dem Grab und hielt innere Zwiesprache. Sollte ich die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein lassen? Was würde sich schließlich an meiner Gegenwart ändern, wenn ich mehr über diese Tote in Erfahrung brächte? Ja, was?
Gleichzeitig ahnte ich, dass ich nun nicht mehr einfach so weiterleben konnte, als wäre nichts geschehen – und da war der Traum. Die düstere fremde Stadt, durch die ich fast jede Nacht streifte. Und ich hatte überhaupt keine Lust, nach Prag zu fahren.
WENIGE WOCHEN SPÄTER BLICKTE ICH durch das staubige Fenster auf die vorbeiziehende Sommerlandschaft. Die Bauern waren schon dabei, das erste Getreide zu ernten, und auf den abgemähten Feldern lagen überall große Strohballen. Ich schwitzte auf einem roten Kunstledersitz im Fernzug nach Prag. Was?, werden Sie vielleicht fragen. Sie wollte doch gar nicht nach Prag. Warum ist sie nicht lieber nach Haifa geflogen, um Elias Cukerman zu besuchen? Das wäre doch das Einfachste gewesen. Für mich nicht. In Israel tobte gerade der Terrorkrieg zwischen Israelis und Palästinensern, der Flug ist sündhaft teuer, ich hasse Hitze – aber vor allem: Wie soll jemand, der Jael Winterstejn heißt und weder jiddisch noch hebräisch spricht und keine Ahnung von jüdischen Gebräuchen hat, das Vertrauen der Menschen in Haifa gewinnen, um dort etwas herauszufinden?! Ja, ich gebe zu, ich hatte einfach Angst davor. Prag erschien mir akzeptabler. Außerdem hatte ich in der Zwischenzeit handfeste Gründe für eine Reise nach Tschechien. Auch das war kein Zufall, sonst würde ich Ihnen heute nicht meine Geschichte erzählen.
Meine Vergangenheit teilt sich in zwei Abschnitte: Das Leben in der Familie Graham wird von dicken Fotoalben dokumentiert, eine Familiengeschichte mit allerhand Erinnerungen. Die sechs Jahre davor befinden sich in einem Schuhkarton. Dieser war zusammen mit mir ins Haus der Grahams gezogen, hatte mich während des Studiums in München begleitet und fristete nun ein zurückgezogenes Dasein auf meinem Wohnzimmerregal. Ich öffnete ihn nur sehr selten und wenn, dann erfasste mich beim Betrachten der alten Fotos und vergilbten Papiere ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts dabei empfand. Nichts – als hätten diese Relikte nicht das Geringste mit mir zu tun.
Am Abend meiner Rückkehr aus dem Urlaub konnte ich es jedoch nicht erwarten, in diesem Schuhkarton einen Hinweis auf das Geburtsdatum meiner Großmutter zu finden. Vergebens.
Doch die Schuhschachtel wurde trotzdem unverhofft zur Schatztruhe. Zwischen den Kondolenzbriefen zu Mutters Tod fand ich auf einem Umschlag die Adresse von Else und Georg Frenzel. Der Kontakt zu ihnen war nach Mutters Tod abgerissen. Was die Zeit nicht völlig ausradieren konnte, sind meine Erinnerungen an Mutters Gute-Nacht-Märchen. Schöne spannende Geschichten von der kleinen Hanna, die ich auch nach vielen Wiederholungen noch liebte. Sie spielten ausnahmslos auf dem Bauernhof der Frenzels. Und ich erinnerte mich jetzt im richtigen Augenblick daran.
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