Bald hatte ich eine Telefonnummer zu der Adresse herausgefunden und musste nur noch den Mut aufbringen, anzurufen. Nach einigen Tagen war es soweit. Ich erreichte Elses Tochter. Georg war inzwischen gestorben und Else lag gerade im Krankenhaus. Mit ihren 86 Jahren müsse man mit allem rechnen. Ich bat die Tochter, Else über meine Großmutter zu befragen. Und tatsächlich, schon kurz darauf bekam ich zwei gute Nachrichten. Else ging es wieder besser. Ihre Tochter nannte mir eine Adresse in Prag. Dort hatte meine Großmutter gelebt. Ich musste ihr versprechen, Else unbedingt bald zu besuchen. Diesen Besuch in der Oberpfalz wollte ich mit meiner Rückreise aus Prag verbinden.
Fünf Tage Prag. Fünf Tage mit vielen Fragezeichen. Dabei war es nicht meine erste Fahrt dorthin. Vor einigen Jahren war ich schon mal in Prag gewesen. Die Jugendstilausstellung im Alphonse Mucha Museum hatte mich für meine Abschlussarbeit inspiriert. Die alte schäbige Absteige, in der unsere Studentengruppe schlief, war einfach nur schrecklich. Meiner Freundin Beate war in der Metro der Geldbeutel mit allen Papieren gestohlen worden. So hatte ich mit ihr einen großen Teil unserer Prag-Exkursion auf der Polizeiwache verbracht. Diesmal hatte ich vorgesorgt. Wer meinen Geldbeutel stehlen wollte, der müsste mich schon vorher halb entkleiden. Damals steckte ich noch voller Vorurteile – heute könnte ich mit Ihnen darüber lachen.
Nun fuhr ich schon mindestens eine Stunde durch die Tschechische Republik. Ohne die für mich unaussprechlichen Namen auf den Bahnhofsschildern hätte ich es nicht erkennen können. Die sanfte hügelige Landschaft vor meinen Augen, machte kaum einen Unterschied zwischen Deutschland und Tschechien.
Über die unsichtbaren Unterschiede hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch einige Lektionen zu lernen. Heute staune ich darüber, wie ahnungslos ich einmal war.
Meine Mitreisenden waren inzwischen ausnahmslos Einheimische. Eine muntere Unterhaltung war im Gange, an der ich mich leider nicht beteiligen konnte. Ich lauschte fasziniert der Melodie der Sprache. Sie war so ganz anders als Englisch oder Französisch und sicher unheimlich schwer zu erlernen. In Prag würde ich normalerweise mit Englisch oder Deutsch zurechtkommen. Sogar Vaclav Havel, der einzige tschechische Staatsbürger, der mir damals ein Begriff war, sprach gut Deutsch.
Prag begrüßte mich diesmal mit strahlendem Sonnenschein und sommerlicher Hitze. Mit dem Stadtplan in der Hand hatte ich kein Problem, meine Unterkunft zu finden. Sie war nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Diesmal war es keine Absteige, sondern ein modernes Touristenhotel mit drei deutlich sichtbaren Sternen an der Eingangstür. Die freundliche junge Dame an der Rezeption, das gemütliche Zimmer – ich begann langsam, mich zu entspannen. Vielleicht würden die kommenden Tage ja richtig gut werden.
Wissen Sie, was mich an den gängigen Darstellungen von Malern oder Schriftstellern in Kinofilmen immer ärgert? Die scheinen alle Zeit der Welt zu haben und das Geldverdienen geht so nebenbei. Gerade habe ich gemerkt, dass Sie das von mir eigentlich auch denken müssten, denn bisher habe ich nur von Urlaub und Reisen erzählt. Die ganze Wahrheit ist aber, dass mich die Arbeit sogar auf meine Pragreise begleitete. Die Wochen vorher schon hatte ich fieberhaft an den Plakatentwürfen für den Bamberger Kultursommer gearbeitet, um mir diesen Ausflug zeitlich leisten zu können.
Im Gepäck hatte ich meinen nächsten Auftrag: Regenschirme. Fotos von Regenschirmen, denn ich sollte originelle Designs für eine neue Schirmkollektion entwerfen. So saß ich an meinem ersten Abend in Prag auf einer Mauer am Moldauufer und versuchte, über Regenschirme nachzudenken. Die Abendsonne spiegelte sich im Wasser und vergoldete die Brücken über den Fluss. Die Gebäude der gegenüberliegenden Burg leuchteten in satten Pastellfarben, ein sanfter Wind strich mir zärtlich die Haare aus dem Gesicht und die Zeit schien still zu stehen. Meine Gedanken sanken immer tiefer, bis sie in meinem Herzen zur Ruhe kamen. An diesem Abend begann langsam und leise meine Liebe zu Prag.
Die Regenschirme hatte ich vergessen.
Drtinova 34, das war also Drtinova 34. Sollte ich enttäuscht sein über den Anblick oder erfreut, dass das Haus nicht abgerissen war? Was hatte ich eigentlich erwartet? Einen Palast?
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort auf einem Fleck stand und mich nicht zwischen Freude und Enttäuschung entscheiden konnte. Jedenfalls muss ich einen sehr verwirrten Eindruck gemacht haben. Plötzlich tropften einzelne Wortfetzen in mein Bewusstsein: »You okay? You need help?« Die freundliche Stimme gehörte zu haselnussbraunen Augen im Gesicht eines jungen Mannes. »Okay?«, fragte er noch einmal nachdrücklich. »Yes, okay, thank you«, antwortete ich verlegen. »Suchen Sie etwas? Vielleicht kann ich helfen.« Der junge Mann war offensichtlich ein Sprachgenie. An meinem Englisch hatte er mich als Deutsche entlarvt. War mein Englisch wirklich so miserabel?
Er mochte etwa in meinem Alter sein, irgendwie erschien er mir vertrauenswürdig. So erzählte ich ihm, dass ich auf der Suche nach dem ehemaligen Zuhause meiner Großmutter sei und es vermutlich in der gegenüberliegenden Bruchbude gefunden hatte. »Wie heißt Ihre Großmutter?« Als er den Namen Winterstejn hörte, nickte er ernst. »Sie haben es gefunden. Kommen Sie.« Er schob sein Mountainbike über die Straße und machte eine einladende Handbewegung in meine Richtung. Ich zögerte, weil mir im Sekundentakt alle Gründe durch den Kopf schossen, warum man nicht mit einem fremden Mann in einer fremden Stadt mitgehen sollte.
Er drehte sich nach mir um. »Keine Angst, ich bin Besitzer von Haus, ist alles okay.« Also fasste ich mir ein Herz und folgte ihm.
Hier also hatte meine Großmutter gelebt. Durch eine schwere hölzerne Tür betrat ich einen langen, mit grauen Steinplatten gefliesten Flur. Mich umfing der Geruch nach Vergangenheit. Nein, es war kein modriger Verwesungsgeruch, er erinnerte mich vielmehr an die Luft in alten Kirchen oder Burgen, beladen mit den Ereignissen vergangener Epochen. Der junge Mann stellte sein Fahrrad ab und reichte mir die Hand. »Ich heiße Radek.« »Jael Winterstejn«, erwiderte ich seinen Händedruck.
In der nächsten Stunde zeigte er mir das Haus. Er schloss eine alte Glastür zum Erdgeschoss auf. Ich staunte über die wunderschönen bunten Jugendstilornamente zwischen dem alten Holz. Allein die Tür war ein echter Kunstschatz. Dahinter lag ein düsterer, staubiger Raum mit einigen Tischen und Stuhlstapeln in der Ecke. »Das war mal eine Kneipe, jedenfalls bevor ich das Haus gekauft habe. In der Zeit vor 1942 war hier Kaffeestube von Ihrer Großmutter.« Ich fragte Herrn Radek, woher er das alles wisse. Nachdem sein herzliches Lachen verebbt war, klärte er mich auf, dass »Radek« sein Vorname sei und er gewiss nicht mit »Herr«, sondern mit »du« anzureden wäre. Er interessiere sich für die Geschichte dieses Stadtviertels; schon aus beruflichen Gründen: Er sei Lehrer. Daher die bis zur Decke gefüllten Bücherregale in seiner Wohnung im ersten Stock. Auch die durfte ich besichtigen. Das Dachgeschoss war unbewohnt. »Baustelle!«, erklärte Radek. Von innen fand ich das Haus überhaupt nicht mehr so abschreckend. Eher heimelig. Ob Radek wohl alleine darin wohnte? Das traute ich mich nicht zu fragen. Überhaupt formten sich in meinem Kopf viele Fragen, die ich mich nicht zu stellen traute, zuerst nicht einmal mir selbst. Als Radek vorschlug, mir am Nachmittag Prag zu zeigen, falls ich nichts Besseres vorhätte, war ich froh darüber. Ich hatte nichts Besseres vor.
Waren Sie schon einmal in Prag? Die »goldene Stadt an der Moldau« ist in den letzten Jahren touristisch so richtig in Mode gekommen. Menschenschlangen aus allen Nationen winden sich, vor allem in den Sommermonaten, durch die Altstadt mit ihren schönen alten Bürgerhäusern, über die Karlsbrücke hinüber zum Burgviertel und zurück. Das ist das Minimalprogramm, was man gesehen haben sollte. Und bitte: Nehmen Sie sich Zeit. Bleiben Sie unterwegs auch einmal stehen, genießen Sie die malerischen Ausblicke, schnuppern Sie, lauschen Sie. Ein Blick nach oben offenbart Ihnen wunderschön gestaltete Fassaden, Erker und Türmchen. Die Seele Prags verbirgt sich vor den Gehetzten, in der Eile bleibt die Stadt nur eine zweidimensionale Postkartenansicht.
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