1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Theorien (von gr. theorein für Zuschauen; bei Aristoteles wird theoria als Erforschung der Wahrheit ohne Nutzenerwägung und praktischen Zwängen verstanden) stellen somit komplexe Systeme von (relativ) allgemeinen, miteinander verbundenen Gesetzesaussagen dar, die einen bestimmten Ausschnitt der Realität widerspruchsfrei erklären sollen. Häufig werden die Begriffe »Erklärungsansatz«, »Kausalmodell« oder »Netzwerk« gleichbedeutend mit »Theorie« verwendet, wobei eine Theorie jedoch keine einfache Anhäufung ungeprüfter Behauptungen darstellt. Vielmehr ist eine Theorie eine »Vernetzung von gut bewährten Hypothesen bzw. anerkannten empirischen ›Gesetzmäßigkeiten‹«, die »für einen bestimmten Zeitraum für ein begrenztes Untersuchungsfeld … den aktuellen Forschungsstand am besten integriert« (Bortz & Döring, 2006, S. 15). Die Kriterien für die Güte (oder Qualität, Gültigkeit) einer Theorie umfassen folgende Aspekte (nach Hussy & Jain, 2002):
• Klarheit der Begriffe: Die in einer Theorie verwendeten Begriffe sollen möglichst genau, unmissverständlich und nachvollziehbar definiert werden. Die Verwendung einer ungenauen Begrifflichkeit (z. B. »Das Ausmaß des Selbstbewusstseins einer Person wirkt sich auf ihr Sozialverhalten aus«) verhindert, dass durch die Theorie konkretes Verhalten erklärt oder vorhergesagt werden kann (Was ist »Selbstbewusstsein«? Was ist »Sozialverhalten«?).
• Logische Konsistenz der Aussagen: Die Aussagen einer Theorie dürfen nicht in Widerspruch zueinander stehen. So wären z. B. die Aussagen »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen aggressives Verhalten« und »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen Rückzugs- und Fluchtverhalten« nicht miteinander vereinbar.
• Sparsamkeit der Annahmen: Eine »gute« Theorie ist in der Lage, möglichst viele Beobachtungen durch möglichst wenig Annahmen erklären zu können. Die operante Lerntheorie kann z. B. Angriffs- versus Fluchtverhalten von Personen in Konfliktsituationen durch die Annahme einer einzigen intervenierenden Variable erklären, der sog. »Verstärkung« (Skinner, 1938, 1953): Während Angriffsverhalten durch eine positive Verstärkung (sich im Konflikt erfolgreich durchsetzen) aufrechterhalten wird, kommt es bei Fluchtverhalten zu einer Aufrechterhaltung durch negative Verstärkung (Verringerung des Angsterlebens). Würde man alternativ das Konstrukt »Selbstbewusstsein« zur Erklärung verwenden, wäre dies nicht ohne Zusatzannahmen möglich, da diese Theorie nicht ohne weiteres begründen kann, ob ein hohes oder ein niedriges Selbstbewusstsein jeweils zu Angriffs- oder Fluchtverhalten führt.
• Empirische Bewährung der Theorie: Die Qualität einer Theorie ist umso höher einzuschätzen, je häufiger sie verschiedene und strenge »Tests« in empirischen Untersuchungen besteht. Bezogen auf den Zusammenhang zwischen »Selbstbewusstsein« und »aggressivem Verhalten« zeigen solche empirischen Tests beispielsweise, dass die Hypothese »Je niedriger das Selbstbewusstsein von Personen, desto aggressiver verhalten sie sich« zu vielen widersprechenden Ergebnissen führt (vgl. Baumeister, Smart & Boden, 1996). Im Vergleich zu konkreten Einzelhypothesen ist eine (meist eher abstrakte) Theorie schwerer zu überprüfen, da (1) die Umsetzung (Operationalisierung) der Wenn-Komponente misslingen kann (sog. Korrespondenzproblem) und/oder (2) die Erfassung (Messung) der Dann-Komponente ungenau ausfallen kann (sog. Basissatzproblem). Bezogen auf das Beispiel wäre hier zu fragen, wann eine soziale Situation eine »Konfliktsituation« darstellt (und wann nicht) und wann ein Verhalten einen Angriff oder eine Flucht kennzeichnet (z. B. wenn die Person die Situation zwar nicht verlässt, aber auf die Vorwürfe des Gegenübers nicht reagiert). »Gute« Theorien verfügen deshalb wiederum über eigene »Untertheorien« (sog. Hilfstheorien), die sich auf die angemessene Operationalisierung und Messung ihrer Variablen beziehen.
• Informationsgehalt der Theorie: Die Aussagen einer Theorie sollen möglichst gehaltvoll bzw. informativ sein. Was bedeutet der Begriff »Informationsgehalt« in diesem Zusammenhang? Unter der Bezeichnung »Information« (lat. informare für darstellen) versteht man die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Bezogen auf theoretische Aussagen bedeutet dies, dass z. B. Kontradiktionen (widersprüchliche Aussagen) überhaupt keinen Informationsgehalt aufweisen, da sie nur widerlegt, nicht aber belegt werden können (z. B. »Es kommt häufiger vor, dass Frauen mit Männern kommunizieren, als Männer mit Frauen«). Dasselbe gilt für die sogenannten Tautologien (eine immer gültige Aussage; vgl. Box 3), also Aussagen, die man nur belegen, aber nicht widerlegen kann (z. B. »MigrantInnen weisen eine hohe soziale Mobilität auf«). Der Informationsgehalt ist in diesen beiden Beispielen Null, weil es jeweils nur eine Möglichkeit (und keine Alternativen) gibt. Solche Hypothesen sind für ein Forschungsvorhaben nicht von Nutzen. Stattdessen sollen Aussagen einer Theorie einen möglichst hohen Gehalt an Information aufweisen, wodurch ihre Falsifizierbarkeit ansteigt: Je größer die Zahl möglicher Beobachtungen, die eine Theorie widerlegen (die sog. Falsifikatoren), desto größer ist ihr Informationsgehalt.
Modifikation von Theorien
Wird die Aussage einer Theorie widerlegt, führt dies i. d. R. nicht zu einer sofortigen Verwerfung der gesamten Theorie, sondern zunächst zu einer Anpassung bzw. Spezifikation der jeweiligen Aussage. Nehmen wir als Beispiel die Aussage »Wenn Kinder viel fernsehen, dann sinken ihre schulischen Leistungen« und nehmen wir weiter an, diese Aussage habe sich in empirischen Studien nicht bewährt (vgl. Winterhoff-Spurk, 2004), dann gibt es mehrere Möglichkeiten, die Aussage zu spezifizieren (genauer auszuführen) (vgl. dazu Bortz & Döring, 2006):
1. Erweiterung der Wenn-Komponente des Konditionalsatzes: Den Wenn-Teil (»Wenn Kinder viel fernsehen …«) kann man entweder durch eine Und-Verknüpfung (eine sog. Konjunktion) oder eine Oder-Verknüpfung (eine Disjunktion) erweitern. Bei einer Und-Verknüpfung (z. B. »Wenn Kinder viel fernsehen und sich intensiv mit Computerspielen befassen …«) wird die Aussage voraussetzungsreicher, wodurch es zu einem Absinken ihres Informationsgehaltes kommt. Eine Oder-Verknüpfung hingegen (z. B. »Wenn Kinder viel Fernsehen oder sich intensiv mit Computerspielen befassen …«) vergrößert die Anwendbarkeit der Aussage (und damit die Anzahl potentieller Falsifikatoren), wodurch ihr Informationsgehalt ansteigt.
2. Erweiterung der Dann-Komponente des Konditionalsatzes: Wird der Dann-Teil (»… dann sinken ihre schulischen Leistungen«) durch eine Und-Verknüpfung erweitert (z. B. »… dann sinken ihre schulischen Leistungen und es kommt zur sozialen Vereinsamung«), werden durch die Aussage mehr potentiell falsifizierende Beobachtungen abgedeckt, was ihren Informationsgehalt steigert. Reduziert wird der Informationsgehalt einer Aussage jedoch dann, wenn man ihren Dann-Teil durch eine Oder-Verknüpfung ergänzt (z. B. »… dann sinken ihre schulischen Leistungen oder es kommt zur sozialen Vereinsamung«), da dabei die Anzahl an Falsifikatoren verringert wird.
Werden die Aussagen einer Theorie empirisch widerlegt, kommt es in den Sozialwissenschaften häufig zu einer Veränderung (Modifikation) der Theorie dadurch, dass ihr Wenn-Teil durch eine oder mehrere Und-Verknüpfungen erweitert wird. Diese spezielle Art der Veränderung von Aussagen wird als Exhaustion bezeichnet (von engl. exhaustion für Erschöpfung). Ein Beispiel stellt die Frustrations-Aggressions-Hypothese dar, deren ursprüngliche Formulierung lautete: »Wenn Frustration vorliegt, dann folgt Aggression«. In vielen empirischen Studien hat sich die Hypothese in dieser Form nicht bewährt (z. B. Selg, Mees & Berg, 1997), weshalb es zur Formulierung von Zusatzannahmen kam. Berkowitz (1989) konnte beispielsweise in Untersuchungen nachweisen, dass Frustration nur dann zu Aggression führt, wenn (1) Frustration zur Auslösung eines unangenehmen Spannungszustandes führt (z. B. Ärger) und (2) die Situation, in der sich die Person befindet, sog. aggressive Hinweisreize enthält: Das können z. B. bestimmte Gegenstände sein (wie Waffen) oder bestimmte Medieninhalte (wie Gewaltfilme), die über Lernprozesse (das klassische Konditionieren) von den Akteuren mit aggressivem Verhalten assoziiert (verbunden) werden. Die Umformulierung der Frustrations-Aggressions-Hypothese lautet dann: »Wenn Frustration vorliegt und diese mit einem unangenehmen Spannungszustand verbunden wird und die Situation aggressive Hinweisreize enthält, dann folgt Aggression« (siehe z. B. Berkowitz, 1989). Eine solche Exhaustion einer Theorie ermöglicht es zwar, sie zunächst vor widersprechenden Beobachtungen zu »schützen«, allerdings schwächt sie gleichzeitig die Theorie durch eine Einschränkung ihres Geltungsbereiches, was langfristig – bei immer neuen Exhaustionen – dazu führt, dass die Theorie zunehmend unbedeutender (uninformativer) wird.
Читать дальше