1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Tab. 1: Das HO-Schema zur deduktiven Erklärung von Ereignissen
Explanans (Das, was erklärt.)Explanandum (Das, was erklärt werden soll.)
Das HO-Schema kann darüber hinaus zur Erstellung von Vorhersagen verwendet werden. Die Formulierung von Vorhersagen (Prognosen) stellt eine weitere Hauptaufgabe von Wissenschaften dar (vgl. Box 1). Eine Prognose aufzustellen, kann unter den beiden folgenden Umständen sinnvoll sein:
• Die Wenn-Komponente ist noch nicht eingetreten: Man möchte beispielsweise vor der Implementierung einer sozialpädagogischen Intervention (z. B. ein Gruppentraining in der Schulsozialarbeit) oder zum Zwecke der Sozialplanung (z. B. vor der Neueinrichtung einer Institution) etwas darüber wissen, wie die Wenn-Komponente gestaltet werden sollte (Wie sollte die Intervention inhaltlich aufgebaut sein?; Wie sollte die neue Institution strukturell und organisatorisch gestaltet werden?), damit die erwünschte Dann-Komponente auftritt (Die SchülerInnen und Schüler profitieren von der Intervention; Die neue Einrichtung wird von den KlientInnen angenommen).
• Die Dann-Komponente ist noch nicht eingetreten: Impliziert das Gesetz einen zeitlich hinreichend großen Abstand zwischen Wenn- und Dann-Komponente, kann die Prognose auch dann sinnvoll gestellt werden, wenn die Wenn-Komponente bereits gegeben ist. Dies kann in der Sozialen Arbeit beispielsweise dann der Fall sein, wenn nach einer stattgefundenen Intervention (z. B. zur Reduktion des Tabakkonsums) oder nach der Eröffnung einer neuen Institution (z. B. eine Beratungsstelle zur Rückfallprophylaxe von Straftätern und Straftäterinnen) Aussagen über die Dann-Komponente formuliert werden (Die TeilnehmerInnen rauchen weniger; Die Rückfallquote der StraftäterInnen sinkt).
Prognosen haben in diesen Fällen den Status begründeter Hypothesen, die an dem tatsächlichen zukünftigen Ergebnis zu messen sind. Prognosen werden unsicherer, wenn die Wenn-Komponente in der Realität komplexer (vielschichtiger) ausfällt als vom Gesetz angenommen. Dies ist jedoch leider häufig der Fall, da in der Wirklichkeit auch mit zufälligen Einflüssen zu rechnen ist. Insofern stellt die empirische Überprüfung von Prognosen ein besonderer »Härtetest« für jede Theorie dar: Sie ist »ein wesentlicher Beitrag zu einer erfolgreichen Wissenschaft, die auf eine empirische Rückkopplung angewiesen ist« (Bierhoff & Petermann, 2014, S. 16).
Das Gegenteil der Deduktion ist die sogenannte Induktion, bei der vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen wird (vom lat. inductio für Hinführung). Liest man beispielsweise in der Zeitung von einem Überfall durch eine »ausländische Person«, etwas später von einem weiteren Fall usw., kann man zu dem Schluss gelangen, alle AusländerInnen wären kriminell. Solche induktiven Schlussfolgerungen finden sich insbesondere im Alltag, wenn Menschen ihre Umwelt zu »erklären« versuchen. Induktive Schlüsse sind jedoch nicht wirklich zwingend (d. h. logisch), da immer die Möglichkeit besteht, dass ein Gegenbeispiel auftritt (allerdings berichten Zeitungen es nicht, wenn AusländerInnen keinen Überfall begehen). Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedienen sich mitunter der induktiven Methode, z. B. wenn sie aufgrund gehäufter Beobachtungen eine allgemeine Gesetzmäßigkeiten vermuten. Diese Vermutung weist jedoch vorerst lediglich den Status einer Hypothese auf, die anschließend empirisch überprüft werden muss (und sich dabei auch als falsch erweisen kann).
Ein Gesetz stellt noch keine Theorie dar. Gesetze beschreiben lediglich den regelhaften Zusammenhang zwischen (mindestens zwei) Größen (beim Bystander-Effekt sind das die Anzahl der ZeugInnen und das Hilfeverhalten). Solche Erklärungen werden auch als Erklärungen erster Ordnung (Laucken, Schick & Höge, 1996) bezeichnet, da ihr Fokus auf die beobachtbaren Aspekte einer Wenn-dann-Beziehung begrenzt ist. Eine Theorie jedoch befasst sich darüber hinaus mit der Frage, warum dieser Zusammenhang besteht. Wie kann man erklären, dass das Hilfeverhalten bei einer zunehmenden Anzahl von ZeugInnen absinkt und nicht, was ebenso denkbar wäre, zunimmt? Theorien liefern eine Erklärung zweiter Ordnung, da ihr Blickpunkt über die Wenn-dann-Frage hinaus auf die Warum-Frage ausgeweitet wird.
Bis heute liegen nicht nur viele Studien vor, die den Bystander-Effekt in unterschiedlichsten Situationen belegen (Erklärung erster Ordnung), sondern auch eine große Reihe an Untersuchungen, die der Warum-Frage nachgehen und die Erklärungen zweiter Ordnung für den Effekt überprüfen. Eine dieser Erklärungen zweiter Ordnung bezieht sich auf die sogenannte Verantwortungsdiffusion, die besagt, dass Bystander (Personen einer Zeugengruppe, die nicht helfen) die Verantwortung dafür, der in Not befindlichen Person zu helfen, auf die anderen ZeugInnen »aufteilen« (diffundieren). Ist zum Beispiel neben der eigenen Person noch eine weitere Person anwesend, dann wird die Verantwortung für die Hilfeleistung auf diese beiden Personen verteilt, so dass die Verantwortung der eigenen Person dadurch »halbiert« wird (z. B. Schwartz & Gottlieb, 1976). Das Beispiel verdeutlicht, dass Theorien mehr beinhalten, als die durch das Gesetz formulierten Wenn-dann- oder Je-desto-Komponenten: Es kommen Aspekte hinzu, wie im Beispiel die Verantwortungsdiffusion, die im Gesetz nicht enthalten sind. Was diesen »Mehrwert« von Theorien genau ausmacht, wird im Folgenden näher ausgeführt.
Zunächst muss an dieser Stelle die Bezeichnung Variable eingeführt werden. Eine Variable (von lat. varius für verschieden) kennzeichnet eine veränderliche (variierende) Größe, für die mehrere Ausprägungsgrade vorliegen. Zum Beispiel können beim Bystander-Effekt die beiden Größen »Anzahl der ZeugInnen« und »Dauer bis zum Eintritt der Hilfeleistung (gemessen in Sekunden)« sehr unterschiedliche (variable) Ausprägungen annehmen: Beide Variablen können bei eins beginnen und immer weiter ansteigen (2 Personen, 3 Personen usw.; 2 Sekunden, 3 Sekunden etc.). Bei Gesetzesformulierungen werden (mindestens) zwei Variablen berücksichtigt: Die »Wenn-Komponente« stellt die sogenannte Bedingungsvariable dar, die »Dann-Komponente« die Folgevariable. Synonym werden für eine Bedingungsvariable auch der Begriff »unabhängige Variable« und für eine Folgevariable die Bezeichnung »abhängige Variable« verwendet. Bezogen auf den Bystander-Effekt stellt also die »Anzahl der ZeugInnen« die unabhängige Variable dar (da sie nicht von der anderen Variable, der »Hilfeleistung«, abhängt) und die »Hilfeleistung« die abhängige Variable (weil sie von der anderen Variable, der »Anzahl der ZeugInnen«, abhängig ist).
Um die Warum-Frage zu beantworten beziehen sich Theorien nicht nur auf die (beobachtbaren) unabhängigen und abhängigen Variablen, sondern darüber hinaus auch auf solche Variablen, die nicht direkt beobachtbar sind, sondern i. d. R. erschlossen werden. Im Beispiel ist das die Verantwortungsdiffusion: Diese ist nicht Teil des äußerlich sichtbaren Verhaltens der Personen, sondern ein Aspekt ihres inneren Erlebens (genauer ihrer kognitiven Aktivität). Solche theoretischen Begriffe werden als »hypothetische Konstrukte« bezeichnet, da sie nur angenommen und nicht direkt zugänglich sind. Eine synonyme Bezeichnung dafür ist der Begriff intervenierende Variable (oder vermittelnde Variable), da sie zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable vermittelt, wobei in der Theorie die angenommenen Zuordnungsregeln zwischen den drei Variablen expliziert werden muss: »Wenn die Anzahl an ZeugInnen hoch ist, dann sinkt die persönliche Verantwortung« und »Wenn die persönliche Verantwortung niedrig ist, dann sinkt die Hilfeleistung«.
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