Ich weiß nicht mehr, ob es schlecht lief für uns, schlechter als normal. Auf jeden Fall versuchte mein Vater unsere Abwehr bei einer Ecke für den Gegner mit lauten Anweisungen umzudirigieren. „Kurze Ecke, jeder seinen Mann! Hört auf zu pennen“, brüllte er. „Geh weg“, sagte ich zu ihm, „ich will das nicht mehr hören. Ich will nicht, dass du weiter zuguckst.“ Und das Überraschendste: Von dem Tag an kam er nie wieder.
So wie dieser Tag mein Verhältnis zu meinem Vater veränderte, so veränderte jener 25. Juni 1960 mein Verhältnis zum Fußball. Der HSV gewann nach 0:1-Rückstand mit 3:2, Uwe Seeler schoss zwei Tore, den Siegtreffer, der eigentlich Klaus Stürmer gehörte, drückte er in der 88. Minute praktisch nur noch über die Linie. Stürmer hatte zuvor nach einer Flanke Torwart Fritz Ewert überlupft. Mein Wimpel wehte am Topp.
Ein Bild prägte sich mir damals so ein, dass es bis heute auf meiner inneren Festplatte eingebrannt ist: Uwe Seeler auf den Schultern jubelnder Fans auf dem Rasen des Waldstadions, in dunklem Hemd und weißer Hose. Das Trikot war blau, schlicht und schmucklos, nur die Raute auf der Brust. Natürlich konnte man die Farbe auf dem Bildschirm nicht erkennen, das Farbfernsehen brauchte noch über sieben Jahre.
Hamburg war im Ausnahmezustand. Am nächsten Tag, als die Mannschaft mit dem ehrwürdigen TEE, rot und gelb, am Dammtor-Bahnhof ankam, sollen 20.000 Menschen entlang der Rothenbaumchaussee Spalier gestanden haben. Die Spieler fuhren in offenen VW-Käfern zum Stadion am Rothenbaum mitten in der Stadt, wo der HSV damals zu Hause war. Hier bejubelten noch einmal gut 30.000 Menschen den neuen Meister, andere Quellen sprechen von insgesamt 100.000 begeisterten Fans zum Empfang. Ich saß vor dem Fernseher, ich war noch zu klein und durfte nicht dabei sein, mein Vater hatte es verboten. Aber der Virus, der Virus hatte mich angesteckt.
Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein.
Meine Karriere als Fan begann. Meine Tage definierten sich jetzt immer mehr nach meinem Verein. Ich stand stundenlang bei Wind und Wetter vor dem Eisentor des Platzes am Rothenbaum und wartete vor und nach dem Training auf die Spieler, um sie Autogramme in meine Alben schreiben zu lassen. Ich lungerte da mit einigen Freunden rum, die häufig auch Konkurrenten waren. Wir kämpften um jede einzelne Unterschrift. Wir hatten immer neue Fotos, Mannschaftsbilder, Spielszenen, Porträts, ich auch. Nie hatte ich genug. Nach dem Training, wenn die Spieler über die Straße zum Vereinslokal auf der anderen Seite mussten, versuchte ich mit ihnen durch den Nebeneingang zu schlüpfen. Was kaum einmal gelang.
Hinter der Haupttribüne gab es einen kleinen Bolzplatz aus Sand. Eines Nachmittags war kein Training. Alle wussten das offenbar, außer mir, der wie immer vor dem Tor stand, und Gert Dörfel. „Charly“ riefen sie ihn, weil er so viel Quatsch machte und manchmal nicht gerade den tiefen Teller erfunden zu haben schien. Dörfel war immer ein bisschen anders, und er war neidisch auf Uwe Seeler, den „Bomber“, auf Jürgen Werner, den Intellektuellen, auf Klaus Stürmer, das gut aussehende Talent. Aber er war ein klasse Linksaußen, wie wir ihn in Deutschland selten hatten. Ein Flankengott und torgefährlich dazu. Dörfel, Seeler, Tor – so hieß es damals oft nach seinen Flankenläufen.
Jetzt stand er wie vergessen auf dem Bolzplatz, auf dem sie sich sonst warm machten, und schoss lustlos den Ball gegen die Tribünenwand aus Holz, dass es nur so schepperte, noch mal und noch mal. Ich traute mich aufs Gelände, was eigentlich streng verboten war („Eltern haften für ihre Kinder“). Und Charly rief: „Ey, Lütter, hol ma’ den Ball, man“, als einer versprang, „mach mal ’n beten to“.
So ging das eine Weile, Charly bolzte, und ich machte den Balljungen. Ich empfand das durchaus als Ehre. Wer von den anderen konnte so eine Geschichte schon erzählen? Als Dank bekam ich Autogramme und eine ganz persönliche Widmung für meine neueste Errungenschaft, ein Sortiment von Schwarz-Weiß-Fotos der aktuellen Nationalspieler, zu denen Dörfel damals gehörte. Das Album mit den Fotos steht noch heute bei mir im Regal.
Zu Spielen der Regionalliga Nord am Rothenbaum ging ich nun regelmäßig. Ich stand in der Kurve vor der Kirche am Turmweg. Oft schaffte ich es, ungesehen über den Zaun zu klettern, und sparte mein Taschengeld. Es waren besondere Spiele, vor allem die Atmosphäre in dem kleinen, engen Stadion, wenn es proppenvoll war. Bis zu 30.000 Zuschauer sollen manchmal dabei gewesen sein, für heutige Verhältnisse unvorstellbar. Von Sicherheitsvorkehrungen war damals keine Rede. Einmal war das enge Stadion gegen Werder Bremen so überfüllt, dass wir Zuschauer uns aus der Kurve direkt bis hinters Tor und an die Torauslinie drängten. Mit Fahnen und allem Klimbim. Der Schiri ließ trotzdem unbeirrt weiterspielen. Manchmal legte sich Charly Dörfel auch vor einer Ecke erst mal mit Zuschauern an, die auf der Haupttribüne bis dicht an den Spielfeldrand saßen und nicht immer nur nette Kommentare abgaben.
Dörfel, Seeler, Tor.
Es dauerte noch ein Jahr, bis meine Mutter mich im Sommer, rechtzeitig vor meinem Geburtstag, eines Tages fragte: „Was wünschst du dir? Hast du schon einen Wunschzettel geschrieben?“ Die Frage war lieb gemeint, aber ziemlich rhetorisch. Denn geschenkt wurde damals vor allem „etwas Nützliches“, wie meine Mutter gern sagte.
Meine Eltern mussten ihr Geld zusammenhalten, mein Vater war einfacher Hafenarbeiter, meine Mutter verdiente etwas durch Putzen bei einem Augenarzt dazu. Wenn ich mir also einen roten Pullover oder „Nicki“ wünschte, weil alle so einen hatten, bekam ich schon mal einen blauen. „Ist doch auch schön. Und viel praktischer“, hieß es dann, gemeint war natürlich „billiger“. Ich verfluchte meine Eltern manchmal dafür.
Im Sommer 1961 war alles anders. Ich hatte ein neues Leben und brauchte nichts „Nützliches“. Ich brauchte eine HSV-Fahne. „Andere Wünsche habe ich nicht“, verkündete ich. Was sollte daran so schwer sein? Andere hatten ja schließlich auch eine.
Tatsächlich war das gar nicht so einfach, selbst wenn man gewollt hätte. HSV-Flaggen gab es bei Fahnen-Fleck und sonst nirgends, zumindest in meiner kleinen Welt. Fan-Shops waren noch nicht erfunden, andere Bezugsquellen gab es nicht. Eine Größe hatte Fahnen-Fleck vorrätig, das hatte ich gecheckt. 50 mal 78 Zentimeter, aus festem Baumwolltuch und mit aufgenähter Raute, kostete rund 40 Mark. Es gab wohl auch eine größere, aber die war sowieso nicht drin. Schon die kleine war meinen Eltern, na klar, zu teuer. „Kommt nicht in Frage, für so’n Tinnef“ – die Ansage war hamburgisch und glasklar: Unsinn. Meine Taktik war aber auch glasklar: Ich wollte nichts anderes, um keinen Preis. Die Fahne. Oder nichts. Natürlich bekam ich dann doch Geschenke, aber halt irgendwelche, die meine Mutter sich ausgedacht hatte und praktisch waren, der Tag war jedenfalls im Eimer.
Zu solchen Kraftproben kam es noch zweimal, dann hatte ich mich durchgesetzt. Zu Weihnachten war meine Ansage ebenso deutlich: „Eine HSV-Flagge, sonst nichts.“ Und ebenso zum nächsten Geburtstag. Als dieser Machtkampf am darauf folgenden Weihnachtsfest schon wieder nach hinten loszugehen schien, griff mein Vater triumphierend in einen toten Winkel zwischen unserem schweren, dunkelbraunen Wohnzimmerschrank und der Wand. Und da stand sie: an einem schwarzen Stiel mit goldener Spitze. Es war Heiligabend 1962, und es war ein Wunder geschehen. Ich hatte meine erste HSV-Fahne.
Es gibt sie noch heute. Jetzt liegt sie verstaubt im Schlafzimmer im toten Winkel. Mit den Unterschriften der Kumpels, mit denen ich zusammen den Europacup-Sieg 1977 in Amsterdam gesehen hatte. Aber ohne goldene Spitze.
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