Passt, der Mann gefällt mir. Viel zu oft sucht der Fußball den Schulterschluss mit den Massenmedien, die plumpe Kumpanei, auch in Hamburg. Viel zu sehr wird über Bande gespielt: Hilfst du mir, helf’ ich dir. Je größer die Schlagzeilen, desto besser das Gegengeschäft für den Informanten. Das ist vielleicht gut für die Auflage und die Wertschätzung des Maulwurfs bei einzelnen Journalisten, meist aber nicht für den Verein.
Alles gut, denke ich. Noch schnell die Gretchenfrage: Was wollen Sie verdienen? Ich frage ganz direkt, ohne lange herumzueiern. Er zögert nur kurz.
Zurück auf der Autobahn bin ich zufrieden mit mir. Und mit ihm. Fast schon ein bisschen euphorisch. So einfach hatte ich es mir nicht vorgestellt. Gute Leute müssen also nicht zwangsläufig auch Arschlöcher sein. Das könnte was werden. Ich bin mit meinen Gedanken weit weg, als ich mich wieder Stillhorn nähere. Und dann sehe ich es: Bremslichter. Stau. Highway to hell. Am liebsten würde ich umdrehen, bloß weg.
Der Virus
Wann mich der Virus befiel, das ist nicht mehr genau auszumachen. Es muss irgendwann Ende 1959 oder Anfang 1960 gewesen sein. Das legendäre Tor von Uwe Seeler im Qualifikationsspiel zur Deutschen Meisterschaft gegen Westfalia Herne im Juni 1960 jedenfalls, als er nach einer Flanke, halb unter Nationaltorwart Hans Tilkowski auf dem Boden liegend, den herabfallenden Ball per Fallrückzieher ins Tor schießt, ist fest in meinem Kopf. Und zwar schon in bewegten Bildern. Aus den Anfängen des Fernsehens.
Dass es mich richtig erwischt hatte, muss meinen Eltern spätestens am 25. Juni 1960 klar geworden sein. Es war ein Sonnabend, und es war ziemlich warm, alle Augenzeugen sprachen hinterher von schwüler Hitze im Frankfurter Waldstadion. Die ganze Stadt schwitzte Fußball, wahrscheinlich das ganze Land, aber um das zu bemerken, war ich noch zu klein.
Ich besetzte früh am Nachmittag einen Sessel in unserem Wohnzimmer und stellte zufrieden fest, dass mein Vater nicht etwa schlief, wie so oft nach seinen Nachtschichten. In unserer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung plus Küche – das Klo mussten wir mit der Vermieterin teilen – war das durchaus von Bedeutung. Denn unser Wohnraum war zugleich das Schlafzimmer der Eltern. Zum Schlafen wurde der Wohnzimmertisch vor den mächtigen Schrank geschoben und die Couch zum Bett aufgeklappt. Für den Fernsehsessel war dann kein Platz mehr und für Kinder schon gar nicht. „Ab in dein Zimmer“, hieß es dann. Das war ein gut 1,50 Meter schmaler, etwa drei Meter langer und spitz zulaufender Schlauch mit zwei Türen. Nur mit Hilfe eines Wandklappbettes bot er überhaupt etwas Platz und wurde dem Anspruch „Zimmer“ zumindest halbwegs gerecht.
Neben den Sessel stellte ich die Miniaturausgabe eines Fahnenmastes auf den Wohnzimmertisch, 30 Zentimeter hoch vom Fuß bis zur Spitze. An einem dünnen Band konnte man einen kleinen Wimpel mit der HSVRaute hissen und notfalls auch auf Halbmast setzen. Aber das war ja nicht vorgesehen. Zehn Zentimeter lang war der Wimpel vielleicht, so wie man ihn damals an einer kleinen Sprungfeder auf das vordere Schutzblech von Fahrrädern oder Ballonrollern montieren konnte.
Das Endspiel: Ein Anfang
Nervös wartete ich auf den Anpfiff. Der HSV spielte gegen den 1. FC Köln um die Deutsche Meisterschaft. Der große Favorit mit den Nationalspielern Hans Schäfer, Georg Stollenwerk, Karl-Heinz Schnellinger, Helmut Rahn, Leo Wilden, Karl-Heinz Thielen und wie sie alle hießen. Gegen den HSV mit Deutschlands neuem Idol Uwe Seeler, mit Klaus Stürmer und Gert „Charly“ Dörfel. Aber sonst? Zwei Endspiele hatten die Hamburger zuletzt verloren, 1957 und 1958, dazu noch das Pokalfinale 1956, jetzt versuchten sie es mit einer neuen, stark verjüngten Truppe, die vor allem eines auszeichnete: Elf Hamburger standen da auf dem Platz.
Ich kauerte vor dem Fernseher, der Bildschirm war klein, das Bild damals noch schwarz-weiß. Das Zeitalter der bewegten Bilder hatte eigentlich gerade erst angefangen. Zum Massenmedium war Fernsehen erst im Oktober 1957 geworden, rund eine Million Geräte standen damals in deutschen Haushalten, wir waren nicht dabei. Wir konnten uns eine Fernsehtruhe erst sehr viel später leisten, immerhin noch rechtzeitig zum Endspiel. Die WM in Schweden 1958 mit den berühmten Schlachtgesängen „Heja Sverige“ und Uwe Seelers Feuertaufe bei einem großen internationalen Turnier hatte für mich noch vor dem Radiogerät stattgefunden, das Ohr immer dicht am Lautsprecher neben dem legendären grünen Auge des Röhrengeräts.
Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV.
Kurz vor dem Anpfiff kam mein Vater dazu. „Was soll das denn?“ Er zeigte auf meinen HSV-Wimpel mit der Raute, als traute er seinen Augen nicht: „So’n Tinnef! Nützt sowieso nix!“ Immerhin verbot er mir den Aufzug nicht. 1:0 für mich.
Mein Vater mochte Fußball, aber nicht den HSV. Nicht dass er eine Zecke war. Aber wenn er zu größeren Spielen ging, dann zu den Braunweißen vom FC St. Pauli. Dem ewigen Konkurrenten in der Stadt. Wunstorf, Porges, Osterhoff, das war seine Welt. Hinter dem Tor am Millerntor stand er dann, stritt mit Zuschauern, die nicht seiner Meinung waren, und pflaumte, wenn’s nicht lief, abwechselnd den eigenen Torwart und notfalls auch den Schiedsrichter an. „Du Gurke“, brüllte er mal Harry Wunstorf zu, dem legendären Keeper der Paulianer, „mit der Mütze musst du den holen“.
Und dem Schiedsrichter, der am Millerntor damals praktisch durch die Kurve zu den Umkleidekabinen musste, sagte er auch gern, was er von ihm hielt: „Pfeifenheini“. Mit dem HSV hatte mein Vater nichts am Hut. „Lackaffen“ waren das für ihn, warum, das hat sich für mich nie so recht erschlossen. Er hielt die Rothosen für Geldheinis und St. Pauli wohl für einen Arbeiterverein, der besser zu ihm passte.
Mein Vater war ein herzensguter Kerl, ich mochte ihn sehr. Aber manchmal war er mir peinlich, vor allem beim Fußball. Ich musste, wenn meine Mutter arbeitete, als Kleiner oft mit ans Millerntor zu den Zecken, wie sich die Pauli-Fans heute ironisch selbst nennen. Sonntagvormittags ging er mit mir dann auf die Grandplätze im Viertel, den unterklassigen Vereinen beim Kicken zuschauen und mit anderen Besuchern schnacken. Das war Fußball in seiner reinsten Art. Danach ging’s zum Frühschoppen in die Kneipe. Er drei kleine Bier, ich ’ne Limo und ’ne Dauerbrezel, bis das Mittagessen fertig war.
Bei meinen eigenen Spielen hatte ich ihm früh Stadionverbot erteilt. Ich spielte, seit ich neun war, in Barmbek beim SC Adler 25, der später mit Uhlenhorst Hertha zu UH-Adler fusionierte. Heute spielen die in der Bezirksliga, das ist im Hamburger Fußball die 7. Spielklasse. Erst viel später ging ich zum SC Sperber Hamburg, der damals zweitklassig spielte. Ich kam so viel rum in der Stadt, lernte Hamburg aus der Sicht von Grandplätzen und Rasenfeldern kennen, bis in die entlegensten Ecken, an der Landesgrenze. Meist war ich Mittelläufer oder Halbstürmer, später Libero, weil ich ein gutes Stellungsspiel hatte und am Ball ganz gut war, mit präzisem Schuss und Passspiel, aber zu langsam für großes Tempo. Manchmal spielte ich auch im Tor, und das ebenfalls ziemlich ordentlich. Ich konnte gut fangen und war mutig genug, mich auch „zu schmeißen“. So nannte man das im Hamburger Straßenjargon der 1960er Jahre, wenn Torhüter auch auf Grand ohne Rücksicht auf Schrammen und Wunden nach den Bällen hechteten.
Mein Vater stand anfangs meist neben unserem Tor, kommandierte die Abwehr, schimpfte mit dem Trainer oder dem Schiedsrichter und, wenn das nicht half, auch mit mir oder meinen Mitspielern. Er konnte es einfach nicht lassen. „Schläfst du?“, oder „Decken, du Döspaddel, der steht doch ganz frei“, rief er dazwischen – Wichser und Hurensohn waren offenbar noch nicht erfunden. Mir war damals schon das unangenehm, ich schämte mich oft dafür. Ich erinnere mich noch wie heute: Wir spielten auf dem Sportplatz Birkenau, ein trister Acker hinter der Kunsthochschule. Wir in Weiß-Rot, den Vereinsfarben von Adler, unser Gegner Hanseat in schwarzen Hosen und weinroten Hemden, 1. Schüler.
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