„Wer hat das gezeichnet?“
„Die jüngere Dame in der Königgrätzer Strasse.“
„In der Tat?“ Es klang ungläubig.
„Ja, Herr Gutschmidt. Während ich zunächst den Auftrag der Mutter nahm, holte die Tochter Modeblätter und stellte nach Bildern mit Bleistiftstrichen das Kostüm zusammen.“
Gutschmidt nickte. Er verstand das Entstehen der Skizze. In den letzten Heften der Journale hatte auch er vier Toiletten gesehen, deren Vorzüge von geschickter Hand in dem Kostüm verschmolzen waren. Das Arbeiten für Damen von Geschmack war Vergnügen. Er wollte das junge Mädchen sehen, vielleicht sprechen.
„Wann kommt die Baronesse?“
„Sie versprach, Punkt drei Uhr, also in zwei Minuten, hier zu sein und sah aus, als sei sie an Pünktlichkeit gewöhnt. Da ... sie tritt aus dem Fahrstuhl.“
Gutschmidt trat zum Nebentisch und stützte hinter dem Rücken die Hände auf die Platte. Den Mittelgang entlang kam gerade auf ihn zu eine junge Dame von zierlicher Schlankheit. Der Kopf lag leicht im Nacken und eine Hand im Skunksmuff. Die andere schwang leicht zum federnden Schritt der wohlgewachsenen Frau. Um ihren schwarzen Hut hing ein Kreppschleier. Ihr Trauergewand schien aus Vorräten in wohlgefüllten Schränken für den Notbehelf zusammengesucht. Sonst wäre sein Interesse an der Dame damit erschöpft gewesen. Er sah an Frauen nur das Gewand, an ihrer Figur nur, wie sie die Kleider trugen. Aber die hochhüftige, zierliche Gestalt hielt seinen Blick fest. Sie schritt in einer seltenen, biegsamen Grazie — flüssig und weich wie das Schlängeln der Boa um den Oberkörper. Ihre unauffällige Schönheit und Eleganz übten einen Reiz, der ihn höher atmen liess. Unwillkürlich griffen die Finger fester um die Tischkante hinter dem Rücken.
Der Zuschneider wies der Dame den Weg zum Nebentisch. Sie dankte mit Kopfnicken:
„Ich möchte auch die Kleider meiner Mutter sehen.“
Kühl und sicher sprach sie, doch auch erwartungsvoll und ungemein interessiert. Wohl war der Rand ihrer grossen dunklen Augen vom Weinen gerötet, aber im Gebaren nichts von der Weichheit einer Trauernden. Für den Augenblick schien ihr Denken nur den neuen Kleidern zu gehören.
Der Zuschneider winkte einem Mädchen. Es nahm der Dame die Überkleider ab und öffnete die Tür zu einer Bude. Die Baronesse trat noch nicht ein. In knapper, schwarzer Bluse, die schmalen Hüften eng von einem Tuchrock umspannt, beugte sie sich über Skizze und Kleider.
Gutschmidt sah den langen, biegsamen Rücken unter dünnem Stoff geschmeidig den Bewegungen des Körpers folgen. Sie richtete sich auf. Schön war das Profil unter dunklem Haar, die klare Linie der feinen geraden Nase, die glatte Rundung des Kinns auf hoher Halssäule.
„Also, kann ich anprobieren?“
„Bitte.“
Das Mädchen führte zur Bude. Die Frauen traten ein. Die Tür fiel ins Schloss. Gutschmidt sah oben das Licht der Lampe aufflammen. Dann klang durch die dünnen Holzwände das Rascheln von Seide auf Frauengliedern. Sonst hörte er das nicht. Merkwürdig warm schien es im Raum. Er stand noch wie vorher, als das Mädchen den Kopf aus der Budentür reckte.
„Herr Lehmann! Wo ist der Zuschneider? Die Dame steht und wartet.“
Frida spürte Ungeduld. Vor dem Spiegel und dem Bild eines neuen Rockes trommelte sie mit dem rechten Schuh auf den Teppich. Da sagte eine klare, aber leise und darum merkwürdig besonnen klingende Männerstimme:
„Darf ich die Bedienung übernehmen?“
Sie wendete den Kopf und musste ihn heben, um in das frische, gesundrote Gesicht des Hochgewachsenen zu sehen. Ein unbestimmtes Gefühl oder vielleicht der Ausdruck strengen, harten Willens über dem breiten Kinn sagte ihr, dass er hier Herr sei. Auch errötete das bedienende Mädchen wie in Verlegenheit, als der Mann ihm mit kurzem Griff Nadeln und Massband aus den Händen nahm.
Fridas Antwort wartete er nicht ab. Er fasste nach dem Gürtelband über ihren Hüften, glättete mit den Fingern Falten und zog einen Kreidestrich über das Tuch. Niederkniend zupfte er am Rocksaum mit der knappen Frage:
„Länge richtig?“
„Etwas kürzer wäre mir lieber.“
Wieder zog er flink einen Kreidestrich und hob sich hinter ihrem Rücken auf die Füsse.
Im Spiegel sah sie, dass er den Oberleib zurückbog. Sein Blick prüfte, ob der Rock gut hing, mit grauen Augen, die weit auseinander standen, als könnten sie nichts aus engem Gesichtswinkel schauen. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und kniete nochmals nieder. Auch zwischen Hüften und Knien warf das Tuch wohl Falten. Um den Fehler des Zuschneiders zu finden, tasteten dort seine Finger von unten nach oben über ihre Glieder.
Tief musste Gutschmidt den Kopf senken. Ein Gefühl der Verlegenheit oder gar Beschämung kam. Der Frauenschneider, dessen Hände einst täglich, aber stets gleichgültig, über das Tuch auf Frauenkörpern geglitten waren, fühlte das Blut zu den Wangen steigen. Seine Finger begannen zu zittern.
Er war fertig und stand hochatmend auf. Das Mädchen griff zum zweiten Kostüm. Sonst wäre Gutschmidt hier geblieben, während eine Kundin den Rock wechselte. Tausend Frauen hatte er im Unterrock gesehen. Heute fühlte er sich nicht als Schneider, sondern als Mann und trat aus der Tür. Als das Mädchen wieder öffnete, trug Frida von Hemmern das nach ihrer Skizze geschnittene Kleid. Von den Schultern liefen nach des Jahres Mode zwei Bänder zu einem runden Kragen im Rücken zusammen. Er legte sie aneinander und wollte mit der Schere einen Streifen vom unteren Saum des Kragens trennen. Fräulein von Hemmern sah es im Spiegel und hob die Hand:
„So gibt’s einen Buckel!“
Überrascht trat er zurück. Eine Belehrung hatte er lange nicht gehört. Doch schien ihm der Einwand berechtigt:
„Sicheres Auge, meine Gnädigste. Überhaupt verstehen Sie sich auf die Schneiderei. Das sah ich an der Skizze.“
Er prüfte und fühlte weiter. Ihr schmeichelte seine Anerkennung. Sie empfand nicht, dass sie neben einem Lieferanten stand:
„Die war schnell aus Journalen zusammengestoppelt.“
Er lächelte: „Ich weiss, wie schwer solch Stoppeln ist.“
Da kamen sie ins Plaudern über die beiden liebe Schneiderei. Während er heftete und schnitt, betrachtete sie im Spiegel den Mann aus einer fremden Welt, die sie mit Samt und Seide, mit Putz und Tand stets gelockt hatte. Ein merkwürdiger Schneider! Natürlich anders als die Herren, mit denen sie verkehrte, und doch erinnerte seine derbe straffe Männlichkeit an Gefährten vom Sportplatz. In Gottes freier Luft, nicht in der Werkstatt schien auch sie gereift. Keineswegs plump, aber gedrungen sah er aus und schien nicht gemacht, um zu gewinnen, wo feingeklügelte Satzungen das Spiel regelten, sondern gewohnt, seinen Weg mit der Faust zu bahnen.
Auch über die Kleider der Mutter plauderten sie. Sie freute sich seiner Komplimente noch, während er sie zum Fahrstuhl geleitete. Es schien nicht wunderlich, dass die Gestalten von Männern und Frauen vor dem Vorüberschreitenden in Ehrerbietung erstarrten.
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