Das andere Mädchen war vermutlich Tante Agnes, sie sah sich aber nicht sehr ähnlich. Eigenartig, daß man sich so sehr verändern kann, dachte ich. Und warum soll man überhaupt immer gleich bleiben – das ist doch nicht unbedingt erstrebenswert. Ich hoffte von ganzem Herzen, daß ich mir selbst mit der Zeit ganz schön unähnlich würde – und wenn nicht von allein, dann eben mit großer Anstrengung.
Vermutlich war das Foto irgendwann in den fünfziger Jahren aufgenommen. Allerdings war der Farbfilm da doch schon erfunden, oder nicht? War das Bild etwa noch älter?
Ich knipste die Lampe aus und sah mit großer Dankbarkeit, daß das lachende Gesicht meiner Mutter von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Das Uraltradio funktionierte zum Glück. Nach einigem Herumschrauben fand ich das dritte Programm. Ich ließ es leise laufen. Irgendwo im Haus schlug eine Tür, dann ging eine Toilettenspülung.
Ich begann auszupacken.
Der eine Koffer enthielt Kleider, Unterhosen und Strümpfe, und zwar in rauhen Mengen. Den Koffer hatte natürlich meine Mutter gepackt. Ich legte alles in Schubladen und hängte Hemden und Jeans in den Schrank.
Dann öffnete ich den Koffer, den ich selbst gepackt hatte – den Bücher- und Ordnerkoffer.
Zuoberst lag ein dicker Wälzer: Die materialistische Geschichtsauffassung. Nicht schlecht, was? Geschrieben von einem Typ namens Bruch, der wie ein Walroß aussah und mich vom Umschlag mit seinen kleinen Schweinsaugen kalt anstarrte. Mir war nicht ganz klar, warum ich das Buch eingepackt hatte. Gelesen hatte ich es nicht, hatte es daheim aber immer herumliegen lassen, damit meine Mutter es sah, und um Bengt und andere damit zu beeindrucken.
Dann nahm ich ein paar Taschenbücher heraus, Gedichtanthologien, die ich manchmal durchblätterte.
Na ja, und dann kamen die Bücher, die ich wirklich las:
Mein ist die Rache von Mickey Spillane,
Reiter des Todes von Christopher Montfort.
Der geheimnisvolle Stern und Tim in Tibet lagen ganz unten.
In den Ordnern – vier Stück – hatte ich Zeitungsausschnitte und meine Aufzeichnungen gesammelt. In einem der Ordner befand sich mein 86 Seiten langer „Roman Nummer zwei“, mühselig auf einer alten Schreibmaschine getippt und voller Fehler und durchgestrichener Passagen. Im selben Ordner war auch mein Tagebuch aufbewahrt (auf das ich vielleicht später noch zurückkomme). Alles schön säuberlich mit alphabetischem Register geordnet. Wenn es drauf ankommt, bin ich verdammt ordentlich, müßt ihr wissen.
Unter der Rubrik Verschiedenes im roten Ordner hatte ich eine Plastikmappe eingeheftet, die acht Seiten, 47 bis 55, aus dem vergangenen Oktoberheft von Penthouse enthielt.
Die Bilder zeigten alles andere als „Verschiedenes“, wie ihr euch wohl schon gedacht habt. Sie zeigten Carol. Laut Bildunterschrift studierte Carol Innenarchitektur, sie war 26 Jahre alt, hatte eine glückliche, idyllische Kindheit in Boston verbracht und ihre Unschuld in einer Kirche in Los Angeles verloren, und jetzt pendelte sie zwischen New York und Washington und war blah blah blah bla bla bla. Ja, ihr wißt ja, was die so schreiben. Ich war vor allem an einem Zitat interessiert, das unter einem der Bilder stand, auf dem Carol – oder Cool Carol, wie sie hier bezeichnet wurde – in einem sehr zerwühlten Bett lag und einen Telefonhörer ans Ohr preßte.
Das spiralenförmig gedrehte Telefonkabel wand sich an ihr hinunter, durch ihr krauses Haardreieck und verschwand zwischen ihren Schenkeln. Rechts neben ihrer Hüfte wand es sich wieder heraus und verschwand dann zum Telefon hinüber, das auf dem seidig glänzenden Bettuch lag.
Also, unter diesem Bild stand folgendes Zitat:
„I prefer young lovers. Their eagerness and sexual appetite turns me on.“
Na?
Mannomann!!
Ich klappte den Ordner zu und stellte ihn neben die anderen ins Bücherregal.
Dann öffnete ich das Fenster, das ebenfalls auf den tristen Hof hinausging, und rauchte eine Zigarette. Die meisten Fenster im Haus gegenüber waren erleuchtet, aber leider waren überall Jalousien und Vorhänge vorgezogen, so daß ich auch dort keine Frauen zu sehen bekam.
Als ich schließlich das Licht ausmachte und in meinem Bett einzuschlafen versuchte, war ich doch sehr dankbar, daß es Tante Agnes gab. Doch, das ist ehrlich wahr. Ich war Sehr froh darüber.
Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich jetzt vermutlich als Untermieter in irgendeinem fremden kleinen Kabuff gelegen. Und natürlich hätte ich wahnsinnig Angst gehabt. Die traurige Wahrheit ist nämlich die, daß ich mich im Dunkeln fürchte. Ja, zugegeben, das ist ziemlich lächerlich, but I can’t help it. Wenn ich jetzt irgendwo allein in einem fremden Zimmer wäre, würde ich jedesmal zu Tode erschrecken, wenn jemand durchs Treppenhaus ging oder irgendeine Stimme durch die Nacht hallte. Ich habe eine sehr ausgeprägte Phantasie – leider nicht nur, wenn es um Sex geht.
Vor Gespenstern habe ich mich nie gefürchtet, so was finde ich eher bescheuert. Vor Menschen dagegen habe ich immer Angst gehabt. Und mit Recht, man braucht ja nur an irgendeinem beliebigen Morgen in die Tageszeitung zu schauen und diese kurzen kleinen Telegrammnachrichten zu lesen. Da gibt es doch jedesmal so einen übergeschnappten Irren, der einem anderen den Kopf abgehackt hat oder einen unschuldigen armen Teufel erschossen hat, der nichts weiter im Sinn hatte, als friedlich im Dunkeln einzuschlafen – genau wie ich.
Als ich klein war – also gut, von mir aus, ein bißchen kleiner –, dachte ich immer, wie schön es sein müßte, „erwachsen“ zu werden, weil man sich dann nicht mehr vor der Dunkelheit zu fürchten brauchte.
Bullshit!
Es wimmelt von sogenannten „Erwachsenen“, die genau so viel Schiß vor der Dunkelheit haben wie ich, mit dem einzigen Unterschied, daß sie es nie zugeben würden.
Also, wenn man „erwachsen“ wird, scheint man vor allem eine Sache gelernt zu haben, nämlich zu lügen. Und zwar was das Zeug hält. Man lügt seine Kinder an, seine alten Eltern, seine Freunde und Bekannten. Es ist eine einzige Lügerei, tagaus und tagein. Wie meine Mutter, zum Beispiel wenn Carlssons anrufen und meine Eltern zum Abendessen einladen, dann sagt meine Mutter am Telefon:
„Ach ja, wie reizend, wie lieb von dir. Ja, abgemacht – bis morgen abend, so gegen sieben. Wir freuen uns schon sehr.“
Dann legt sie auf, seufzt tief und sagt:
„O Gott, diese gräßliche Person, und kochen kann sie schon gar nicht. Ihr Essen schmeckt jedesmal ganz fürchterlich, und dann muß man auch noch dasitzen und ihrem Mann, diesem besoffenen Hanswurst, zuhören.“
Und im nächsten Augenblick schon kann sie mich anfahren:
„Lüg nicht – hast du von meinen Zigaretten geklaut oder nicht?“
Also ehrlich, wie wollen sie’s eigentlich haben?
Und schaut doch bloß diese Kanonenfabrikdirektoren, Kernkraftverantwortlichen, Politiker, Lehrer, Polizisten und der Teufel weiß was alles an. Ein einziges großes Lügenpack, sonst nichts. Der ganze Haufen.
Oder der Zahnarzt zum Beispiel, der immer beteuert:
„Das hier wird überhaupt nicht weh tun!“
Wenn das kein notorischer Lügner ist!
Und Angst haben sie auch, die Erwachsenen. Obwohl sie die ganze Zeit lügen und mit honigsüßer Stimme sagen:
„Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut gehen, du brauchst keine Angst zu haben.“
Nun gut, ich fürchte mich also im Dunkeln. Manchmal habe ich die fürchterlichsten Wachträume, die sich immer kurz vor dem Einschlafen einstellen. Das Allerschlimmste aber ist, mitten in der Nacht mit einem Ruck aufzuwachen und dringend pissen zu müssen. Dann weiß ich nie, ob ich nicht vielleicht an irgendeinem Geräusch aufgewacht bin – eine Tür, die aufgebrochen oder ein Fenster, das eingeschlagen wurde.
Читать дальше