Bernt Danielsson
Michelle
Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer
Saga
Natürlich wird mir wieder mal kein Schwein glauben. Alle werden nur herablassend grinsen, als würden sie einem Gehirnamputierten zuhören.
Wenn meine Mutter zufällig guter Laune ist, wird sie vielleicht den Kopf schütteln und sagen:
„Ach ja, ich sag’s ja, was du dir immer alles ausdenkst.“
Wenn sie dagegen mieser Laune ist und wieder mal ‚Migräne‘ gehabt hat, wird sie den Kopf schütteln, die Augenbrauen runzeln, mich bekümmert angucken und seufzen:
„Mußt du denn immer wieder so abscheulich lügen? Ehrlich währt am längsten, das weißt du doch!“
Beim Big Boß ist es egal, wie er aufgelegt ist, er wird sich sowieso bloß die Bartstoppeln kraulen und grunzen:
„Hör doch mit dieser verdammten Schwindelei auf!“
Von Cammis Reaktion gar nicht zu reden...
Aber okay – wenn ich ehrlich sein soll, es stimmt schon, daß ich früher manchmal ein bißchen dick aufgetragen hab.
Als ich klein war, hieß es immer: „Der Junge hat ja so eine lebhafte Phantasie“, und dann legten alle den Kopf schief und lächelten mich an.
Als ich älter wurde, bekam ich zu hören, ich solle mir nicht so viel ausdenken. Und gleichzeitig hörten sie auf, mich anzulächeln.
Dann als Teenager war keine Rede mehr von ‚Phantasien‘ oder ‚Einfällen‘. O nein, ab da waren es schlicht und einfach Lügen.
Und dabei ist es geblieben.
Wenn ich ehrlich sein soll, hab ich immer noch nicht so recht kapiert, was zwischen einer ‚Lüge‘ und einem ‚Einfall‘ für ein Unterschied sein soll. Und überhaupt – was ist ‚Wahrheit‘ eigentlich? Und wann wird ‚lebhafte Phantasie‘ zur Lüge?
Aber, es stimmt schon – ich hab tatsächlich so einiges zusammengeflunkert. Und da sind manche Leute ziemlich sauer geworden. In Zukunft wird sich das wohl ändern...
Seit dem letzten Sommer... seit Michelle...
Glaube ich wenigstens.
Also, ich meine, wer weiß – vielleicht fange ich jetzt erst an, wie wild zu lügen, zu phantasieren und mir Sachen auszudenken, gerade wegen Michelle (oder wie sie eigentlich hieß – oder heißt).
Ich weiß nicht.
So was kann man nie genau wissen.
Wenn das hier ein Film wäre, würde er so anfangen:
Der Zuschauerraum wird dunkel, der Vorhang geht hoch – die Kamera fegt über spiegelblankes Wasser. Ein früher Sommermorgen – das sieht man an den Farben, am Licht. Die Kamera ist vorn an der Schnauze eines Hubschraubers anmontiert (aber das sieht man natürlich nicht), der auf die Schären nördlich von Stockholm zuhält.
Die Musik setzt sofort ein: ein stampfender Baß, von spröden, glockenähnlichen Synthiklängen umspielt. Dann ein kurzer, prägnanter Akkord auf einem anderen Synthi, ein Streicherklang – und der Vorspann beginnt mit großen roten Buchstaben.
Die Wasseroberfläche wird immer mehr von einer stillen Brise gekräuselt, die landeinwärts streicht. Kleine Felseninseln tauchen auf und flitzen rasch am Betrachter vorbei. Nach und nach wachsen sie und werden zu richtigen Inseln, grüne Bäume und Büsche tauchen auf und Häuser, kleine Bootshäuser an morschen alten Stegen und prächtige, frischrenovierte Jugendstilvillen.
Vor einem kleinen rotgestrichenen Sommerhaus mit weißen Ecken sitzt eine Familie und frühstückt neben einer Fahnenstange, auf der die schwedische Fahne in der Brise flattert.
Die Filmmusik legt jetzt richtig los, farbenprächtige Synthiteppiche werden ausgerollt, und im Vordergrund röhrt ein Altsaxophon.
Die Kamera gleitet in eine weite, offene Bucht hinaus. Ganz hinten erhebt sich eine bewaldete Felswand steil aus dem Wasser. Mitten in dem dunklen Grün leuchtet ein hellbraunes Rechteck.
Als das Kameraauge sich nähert, entpuppt sich das Rechteck als ein Holzhaus, das hoch oben auf dem Felsen liegt. Das Haus wird immer größer und bleibt im Mittelpunkt der Leinwand.
Jetzt entdeckt der Zuschauer eine Veranda, die an der ganzen Vorderseite entlangläuft. Die Veranda ist leer, und man kann durch die großen Fensterfronten direkt in ein Zimmer reinschauen.
Im selben Augenblick, als der Zuschauer bereits damit rechnet, daß die Kamera gleich durchs Fenster kracht, steigt der Hubschrauber geschmeidig in die Höhe und streicht dicht über die roten Dachziegel hinweg.
Auf der Rückseite des Hauses wird er langsamer und senkt sich über einen großen Garten. Der Garten ist voller grünschimmernder Büsche, Apfelbäume und Birken, links steht ein üppiger Goldregen mit knallgelben Blütentrauben. Direkt dahinter leuchtet ein riesiger, blauvioletter Rhododendronbusch auf. Die Sonne scheint hinter der Hausecke hervor und durchleuchtet die tausend zarten Blätter einer Fliederhecke. Die schräg fallenden Sonnenstrahlen werfen Schatten auf den Rasen. Der Hubschrauber landet. Die Kamera folgt einer Treppe aus Schieferplatten vom Haus zu einer rotgestrichenen Garage runter. Ein fast zugewachsener Weg führt vom unteren Ende der Garage auf eine größere asphaltierte Straße hinaus.
In diesem Moment endet der Vorspann. Der Name des Regisseurs verschwindet, und die Musik verklingt, während gleichzeitig sämtliche Geräusche des Sommervormittags hörbar werden:
Die schwache Brise tuschelt in Millionen von Blättern, aus allen Richtungen dringt Vogelgezwitscher, heisere Meisenjungen piepsen pausenlos nach Futter und stressen ihre Eltern, die im Pendelverkehr unterwegs sind, aus der Ferne hört man Möwen kreischen, ebenso das Schnaufen eines Schärendampfers, das dann von einem vorbeibrüllenden Motorboot übertönt wird.
Die Kamera verharrt auf dem zugewachsenen kurzen Weg vor der Garagentür.
Dann ist ein Automotor zu hören, zuerst schwach aus dem linken Lautsprecher, er wird immer lauter, und gleich darauf biegt ein weißer Audi 100 CC Kombi ins Bild und bremst heftig vor den Garagentoren.
Der Motor verstummt.
Die Autofenster sind dunkel, und es ist unmöglich, die Personen im Auto zu erkennen, doch da – die Vordertür an der Fahrerseite geht auf, und ein untersetzter Mann steigt aus. Er blinzelt in den starken Sonnenschein und setzt eine Sonnenbrille auf. Er ist ziemlich kurz geraten und kräftig gebaut (um es freundlich auszudrücken), hat Bartstoppeln und trägt ein unglaublich scheußliches kurzärmeliges Hemd.
Das ist mein alter Herr.
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, wie alt er ist, so um die Fünfzig, glaube ich. Im Urlaub weigert er sich, sich zu rasieren, und heute hat er Urlaub. Sonst arbeitet er in einer kleinen Firma, die irgendwas mit Computern zu tun hat.
Jetzt steht er da und scheint nicht so recht zu wissen, was er tun soll. Da ihm offensichtlich nichts einfällt, legt er seine behaarten Unterarme aufs Autodach und tut erst mal nichts.
Dann geht die Beifahrertür auf, und meine Mutter steigt aus. Sie ist ein paar Jahre jünger als mein Vater und auch nicht sehr groß, aber immerhin ein paar Zentimeter länger als er. Sie sieht ein bißchen tantig aus, allerdings wie eine ziemlich frischgebackene Tante, sie ist nämlich immer noch recht schlank und straff, was wohl daher kommt, daß sie immer so nervös ist, praktisch also aus purer Nervosität abnimmt.
Früher war sie Lehrerin, aber seit wir vor ein, zwei Jahren in unser Reihenhaus gezogen sind, arbeitet sie als Studienberaterin, und das bedeutet, daß sie meistens daheim hockt und auf einem unserer vierzehn Computer herumspielt. Aber ich muß ehrlich zugeben – eigentlich hab ich keinen blassen Schimmer, was sie treibt.
„Ach! Ist das ein herrliches Mittsommerwetter!“ ruft sie mit einem leicht übertriebenen Seufzer aus, holt tief Luft und läßt die Nasenflügel beben. Mit anderen Worten, sie klingt genau wie eine typische Mutter.
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