BERNT ENGELMANN
DIE UNFREIWILLIGEN
REISEN DES
PUTTI EICHELBAUM
Steidl Pocket
13. März 1932.Bei der Reichspräsidentenwahl erhält Hindenburg 49,6%, Hitler 30,1% der Stimmen.
10. April 1932.Beim zweiten Wahlgang wird Hindenburg mit absoluter Mehrheit (53%) gewählt; Hitler kommt auf 36,8%.
31. Juli 1932.Reichstagswahlen. Die NSDAP Hitlers wird mit 37,4% stärkste Partei. Ein konservatives Kabinett v. Papen regiert ohne Mehrheit mit Notverordnungen.
6. November 1932.Bei den Reichstagswahlen erleidet die Nazi-Partei einen Rückschlag, bleibt aber mit 33% Stimmenanteil stärkste Partei. General v. Schleicher löst v. Papen als Reichskanzler ab.
30. Januar 1933.Ein rechtes Bündnis bringt Hitler an die Macht. Die »Gleichschaltung« beginnt.
27./28. Februar 1933.Reichstagsbrand. Ausschreitungen gegen Juden, massenhafte Verhaftungen von Linken.
5. März 1933.Die Reichstagswahl bringt nach dem Verbot der kommunistischen Partei Hitler die nötige Mehrheit zur Errichtung der Diktatur.
1. April 1933.Regierung verfügt Boykott aller jüdischen Geschäfte und sonstigen Einrichtungen. Juden werden aus allen Ämtern entfernt. Erste KZs entstehen.
April / Mai / Juni 1933.Gewerkschaften und Parteien (außer der NSDAP) werden aufgelöst und verboten.
10. Mai 1933.Öffentliche Bücherverbrennung. Der Terror gegen die jüdische Bevölkerung verstärkt sich.
Cover
Titel BERNT ENGELMANN DIE UNFREIWILLIGEN REISEN DES PUTTI EICHELBAUM Steidl Pocket
Berlin-Wilmersdorf
Zürich – Lugano – Como – Mailand – Rom
Rom
Como – Lugano – Lausanne – Paris – Le Havre
Bermudas – Bahamas – Kuba
Miami – New York
Herbst 1940–41
New York – Fort Dix – Fort Jackson
Fort Jackson – Fort Bragg – New York
Camp Woburn – Boston – Bristol – Chiltern Hills – Plymouth – Omaha Beach
Omaha Beach – Plymouth – Korsika – Rom – Nizza – Neufchâteau – Sommer 1944
Neufchâteau – Thionville – Neufchâteau
Ardennen – Aachen – Frankfurt – Nürnberg – Schirnding – München – Schongau –Fürstenfeldbruck – Berlin
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Bildnachweis
Impressum
Als man mir Putti zum ersten Mal zeigte, da war er noch sehr klein, geradezu winzig. Ich war viel größer und konnte sogar schon ohne nennenswerte fremde Hilfe stehen. Ich war (und bin) nämlich fünf Monate älter als er.
Unsere Begegnung fand statt im Sommer 1921, als Putti seine erste Ausfahrt in einem, wie mir später versichert wurde, hocheleganten Kinderwagen unternahm. Es war in Wilmersdorf, das erst ein halbes Jahr zuvor und zusammen mit Charlottenburg, Schöneberg, Friedenau und etlichen anderen Dörfern und Städten der Umgebung von der sich gerade zur Metropole Groß-Berlin mausernden Hauptstadt geschluckt worden war. Dieser Eingemeindung hatten Putti und auch ich es zu verdanken, dass wir gebürtige Berliner sind wie unsere Eltern.
Ich soll damals, beim ersten Anblick von Putti, vor Vergnügen gejauchzt haben, und mein Entzücken kannte angeblich keine Grenzen. Daran kann ich mich zwar nicht erinnern, aber es gibt ein Foto von dieser ersten Begegnung, das für sich selbst spricht.
Meine eigene früheste Erinnerung an Putti, der damals etwa drei Jahre alt war, hat mit Stachel- und anderen Beeren zu tun, die er mir in den Mund zu drücken versuchte, wohl um mir damit eine Freude zu machen. Ich mochte schon damals keine Stachelbeeren, aber Putti blieb beharrlich und probierte es als Nächstes mit roten und schwarzen Johannisbeeren, für die ich auch nichts übrighatte.
Jedenfalls gab es dann aufgeregte Versuche, uns zu säubern, zunächst mit kaltem Wasser aus dem Gartenschlauch, was meine Erinnerung daran so frisch gehalten haben mag. Aber für unsere hellblauen und gelben Bleyle-Anzüge kam jede Hilfe zu spät.
Von diesem bedauerlichen Vorfall abgesehen, war mir Putti damals ein guter, zuverlässiger und fleißiger Arbeitskollege beim Pampe-Anrühren und Kuchenbacken im Sandkasten. Mit Poldi Hirschfeld als dritter Fachkraft und dessen jüngerem Bruder Frank als meist willigem, aber noch anzulernendem Hilfsarbeiter haben wir bis etwa 1928 so manchen Zentner weißen Sandes zu Napfkuchen und kleinem Gebäck verarbeitet, sogar noch, als Putti, Poldi und ich bereits gemeinsam täglich drei bis vier lange Vormittagsstunden in der ersten Klasse der Volksschule verbringen mussten.
Die Schule, die die Wilmersdorfer Stadtväter ans Ende der dort noch unbebauten Babelsberger Straße gestellt hatten, ragte schräg gegenüber unserem Garten als ein hoher, hässlicher grauer Steinkasten aus einer unberührten Wildnis, in der wir später als erfahrene Trapper dem Kriegspfad der tapferen Sioux folgten (oder als Apachen die Bleichgesichter zu vertreiben suchten).
Bernt, Poldi und Putti, 1923 (von links nach rechts)
Als ABC-Schützen aber trauerten wir noch dem Sandkasten nach, den man vom Klassenfenster aus sehen konnte und wo es für uns Wichtigeres zu tun gegeben hätte als das Vollmalen der vielen Reihen einer ganzen Heftseite mit schleifchenverzierten Ostereiern, die nach der Meinung eines uns unbekannten Herrn Sütterlin sämtlich den Buchstaben O bedeuten sollten.
Während der Jahre unserer gemeinsamen Volksschulzeit wurden wir ausschließlich von Herrn Lehrer Strelow unterrichtet, einem schnurrbärtigen, hageren Pommern, der Rohköstler und – unserem Mitschüler Boris Belogusski zufolge, der Familie Strelow in deren Schrebergarten beobachtet hatte – auch ein »Lichtfreund« war, worunter wir uns zunächst wenig vorstellen konnten, aber Boris erklärte es uns, und wir staunten sehr. Herr Strelow, der stets stark nach Knoblauch roch und uns großen Respekt einflößte, brachte seinen mehr als fünfzig Schülern nicht nur die Künste des Schreibens, Lesens und Rechnens bei, sondern auch Turnen, Zeichnen, märkische Heimat- und Naturkunde, ja sogar Religion.
Was den Religionsunterricht betraf, so wurde damals bei den Erst- und Zweitklässlern zwischen den verschiedenen Glaubensbekenntnissen kein Unterschied gemacht. Herr Strelow erteilte ihn für Evangelisch-Lutherische, Reformierte, Juden, Katholiken, Neuapostolische, Russisch-Orthodoxe und auch einen Armenier.
Es gab in Berlin-Wilmersdorf in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Tausende von Flüchtlingen aus ganz Ost- und Südosteuropa und aus Vorderasien. Knapp die Hälfte der Schüler unserer Klasse waren – meist bereits in Berlin geborene, mit dem Dialekt längst vertraute und von den anderen teils als »knorke«, teils als »doof« befundene – Kinder solcher Emigranten. Herr Strelow gab einen universalen, auf den Zehn Geboten basierenden und mit jugendfreien Geschichten aus dem Alten Testament angereicherten Religionsunterricht für alle – ausgenommen Putti.
Wenn sich Herr Strelow dazu entschloss, die letzten 45 Minuten des Vormittags zur Religionsstunde zu erklären, dann packte Putti, von uns anderen teils mitleidig, teils neidvoll betrachtet, eilig seinen Tornister und ging nach Hause.
Putti, vorn liegend, Bernt im Matrosenanzug, rechts dahinter, und ihre Volksschulklasse, 1928
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