Es war nach der Jausenzeit am letzten Sonntag im Mai. Die Mühle war wie ausgestorben. Die Dienstleute waren drüben in Marbach und Maria Taferl, Vater und Koja in der Au. Als Heimhüterinnen sassen Mutter und Agi beim Tischchen im Schatten der Hauslinde, beide mit dem Anstricken schadhafter Socken beschäftigt, die beim Durchsehen der reinen Wäsche ausgeschieden worden waren. Sie empfanden die Handarbeit nicht als Entheiligung des Sonntags. Agi las dabei, ohne im Stricken irre zu werden, mit dem höchsten Behagen inneren Erlebens den „Weihnachtsabend“ von Charles Dickens, c) den ihr eine der Oberlehrerstöchter geborgt hatte. Sie las halblaut im ruhigen Erzählerton. Was sie trotz ihrer Jugend daran fesselte, war die allmähliche Umwandlung des gefühllosen Selbstlings Mr. Scrooge d) zu einem hilfsfreudigen Menschen. So fremd und zeitfern ihr die Geschichte war, Agi lebte sich hinein und lernte glauben, was sie wünschte: dass auch ein bejahrter Mann noch sein ganzes Wesen ändern könnte für alle Zukunft, wenn er im Grunde seiner Seele von einem guten Gedanken gepackt wurde. Sie dachte an den Vater. Auch Mutter Maria las, aber nicht im Buche, sondern im Gesichte ihrer Tochter, deren wechselndes Mienenspiel Mitleid und Mitfreude an den Ereignissen spiegelte. Und sie fühlte das Hoffen Agis mit; denn zwischen ihr und der Tochter bestand eine gegenseitige auf Gleichgestimmtheit beruhende Wahrnehmungsfähigkeit für das innere Erleben der anderen.
In der blütenübersäten Krone der Linde war ein lautes Summen von Bienen und Hummeln; es klang wie fernes, im Windesströmen an- und abschwellendes Klingen unzähliger Saiten. — Vom Flur her war das Zwitschern der Schwalben vernehmbar und vom Hofe herüber nur gedämpft das Gezänke der Sperlinge und die Stimmen des Hausgeflügels. — Da scholl vom Erlafsteg her Saitengetön, das einen zweistimmigen Sang begleitete. Mutter und Agi horchten auf. Aus dem Schatten der Au traten zwei hochaufgeschossene, dunkelhaarige Jünglinge. Barhäuptig schritten sie dahin wie zwei fröhliche Brüder. Der eine spielte im Gehen die Laute und beide sangen dazu ein munteres Lied, von dem weder Worte noch Melodie den Lauschenden bekannt waren. Als die Burschen näherkamen, verklang der Kehrreim der letzten Strophe: „Gelobet seist zu jeder Zeit, Frau Musika.“ —
Fröhlich grüssend traten sie an den Tisch und stellten sich der Müllerin vor als die Melker Studenten Hans Paul und Peter Urban. Freimütig erbaten sie sich eine Wegstärkung. Da brachte Mutter Maria einen irdenen Krug voll Milch aus dem Keller und legte Brotlaib, Löffel und Messer vor die Studenten: „Gesegn’ es euch Gott!“ — Als die beiden sich die bartlosen Lippen wischten und nach der Schuldigkeit fragten, bat die Müllerin „Singt uns etwas, eh’ ihr weiterzieht“. — Agis Augen gingen bittend von einem zum andern. Da flüsterte Hans Paul dem Kameraden die Frage zu: „Den roten Sarafan?“ e) Urban nickte und schlug ein paar Akkorde an. Er sang die erste, der andere die zweite Stimme.
Näh nicht liebes Mütterlein
Am roten Sarafan;
Nutzlos wird die Arbeit sein,
Drum strenge dich nicht an.
Tochter setz dich nieder
An meiner Seite hier;
Jugend kehrt nicht wieder,
Wich sie einmal von dir.
Ich auch sang einst Lieder,
Lachte, tanzt’ und sprang;
Steif sind jetzt die Glieder,
Hinkend ist mein Gang.
An dem Sarafan zu näh’n,
Heisst mich Erinnerung;
Kann ich dich drin tanzen seh’n,
Fühl’ ich mich wieder jung.
„Jetzt aber eins vom Wandern,“ schlug Paul vor und sie sangen das Lied:
Ein Sträussel am Hute, den Stab in der Hand,
Muss ziehen der Wandrer von Lande zu Land.
Er zieht viele Strassen, er zieht manchen Ort,
:/: Doch fort muss er wieder, muss weiter fort. :/:
Wohl sieht er ein Häuschen am Wege da steh’n,
Umkränzet von Blumen und Trauben so schön.
Hier könnt’s ihm gefallen, er wünscht, es wär sein;
:/: Doch fort muss er wieder, die Welt aus und ein. :/:
Ein liebliches Mädchen, das redet ihn an:
„Sei freundlich willkommen, du Wandersmann!“
Sie sieht ihm ins Auge, er drückt ihr die Hand;
:/: Doch fort muss er wieder in ein anderes Land. :/:
Ermuntert vom Ausdruck andächtigen Entzückens in den Mienen der Lauschenden, sprach Urban: „Und jetzt, mein lieber Paul, singen wir dein neues, das noch in keinem Büchel steht; das Lied, das du mir zulieb gedichtet hast.“ Und sie sangen:
Kennst du mein Haus der Sehnsucht?
Es steht auf grünem Hang
In hellem Sonnenscheine,
Umklungen von Vogelsang.
Drin schaffen meine Lieben,
Ihr Boden ist wohlbestellt;
Es fehlt nicht an Blumen und Früchten
In ihrer schönen Welt.
Es zieht mich zum Haus meiner Sehnsucht
Wo immer ich schreiten mag;
Schon winkt dem Wandermüden
Der Wiedersehens-Tag!
Hast du kein Haus der Sehnsucht,
Dann bau’ im Geist daran.
Was du recht vorbedenkest,
Das wird einst recht getan.
Agi hatte mit angehaltenem Atem gelauscht und vom Gesichte Hans Pauls keinen Blick gewendet. Sie hatte ja noch nie einen Dichter gesehen; jetzt hatte sie einen vor Augen, einen wirklichen Dichter! — Wann hätte sie das zu hoffen gewagt?
Und so treuherzig schauten seine braunen Augen auf sie hernieder, dass sie den Mut fand, den Wunsch auszusprechen: „Bitte, singen Sie das Lied noch einmal, ich möcht’ es nachschreiben.“ Da taten ihr die beiden den Willen. Ja, Urban riss ein paar Blätter aus seinem Notizbuch, zog aus freier Hand rasch die Notenlinien und schrieb die Melodie auf samt dem Text. Agi war selig.
Als die beiden dankend Abschied nahmen, gab’s ein kräftig Händeschütteln und von beiden Seiten klang es aufrichtig und zuversichtlich: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“
Und sie ahnten es nicht, wo und wie sie einander wiedersehen würden. Wer vermag in die Zukunft zu schauen?
Als die warme Zeit kam, wo die wilden Kirschbäume, die am Mühlbachufer standen, von Sperlingen, Kernbeissern und Kojas Spielkameraden nach Herzenslust geplündert wurden, da erreichte das Glück der Kinder den Höhepunkt: Im Mühlbach floss das klare Wasser kaum hüfttief über feinkörnigen Wellsand dahin. Mit lustigen Gefährten zu plätschern, einander zu necken, im durchsonnten Grase sich auszuwärmen oder sich warm zu laufen und dann in den Kronen der Kirschbäume zu stehen und zu schmausen — gab’s ein herrlicheres Leben für muntere Jungen, wie sie sich so gerne bei Koja einfanden?
An einem sonnigen Donnerstage unternahm der neue Oberlehrer mit den 60 Schülern der Oberklasse, welche die drei letzten Schuljahre umfasste, den versprochenen Ausflug in die Neuda. Hier zeigte er ihnen die Flussinsel, den Betrieb der Mühle und der Milchwirtschaft. Die ganze Schar badete mit viel Gejauchze und Gekirre im Mühlbach. Auf der gemähten Wiese vor der Puhuhütte lagerte das junge Volk und verzehrte seine mitgebrachten Jausenbrote. Die besten Kletterer durften in die Kronen der Wildkirschbäume hinauf. Sie warfen die Früchte mit vollen Händen unter die Kameraden. Es war ein Balgen und Streiten, ein Purzeln und Übereinanderrollen, dass der aufsichtsführende Unterlehrer schliesslich zum Singen antreten liess, um Unheil zu verhüten. Und bald ertönte, die Gemüter besänftigend, der Blumenwalzer:
Die Wiesenblumen, die sprachen:
Wir wollen tanzen einmal — Ha, ha, ha.
Die Freude woll’n wir uns machen
Im grünen Wiesensaal — Ha, ha, ha,
Das Bächlein sprach: ja Schritt für Schritt
Da hüpf’ und tanz’ ich auch noch mit;
Ich will die Blümlein haschen,
Die sich die Füsschen waschen — .........
Die erste wie die zweite Stimme hatten gleichen Anteil an der wundersam rhythmischen Bewegung des Liedes. Es fuhr den zwei Mägden in die Beine, die auf der Wiese nebenan mit Heuwenden beschäftigt waren. Sie fassten einander anmutig um Hüfte und Schulter und tanzten, dass die Röcke flogen.
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