Indessen sass unter der Hauslinde der Oberlehrer mit den Müllerleuten beim Oberskaffee. a) So eilig er’s hatte, die Schale zu leeren, um bald mit dem jüngeren Amtsbruder Platz zu tauschen, nahm er sich doch die Zeit, über Koja ausführlich zu sprechen. Agis Blicke hingen an dem länglichen, ausdrucksvollen Gesicht des Schulmannes, dessen Ausdrucksfähigkeit vom üppigen Schnurrbart und den buschigen Augenbrauen erhöht wurde. Seine stahlblauen Augen leuchteten, als er, dem Vater zugewandt, sagte: „Ihr Koja ist ein gottbegnadeter Bursch, ein Besonderer. Gesund an Seel’ und Leib, lebensfroh, kein Duckmäuser, kein Streber. Mir so lieb wie seinen Kameraden. Er nimmt am Unterricht mit jener Freudigkeit teil, die mir verbürgt, dass ihm das Lernen, das Einsichtgewinnen, das Blickfelderweitern ein ehrliches Bedürfnis ist. Der um ein Jahr ältere Busch-Edi und Koja sind die findigsten Schlussrechner, die besten Zeichner, sie sind die tüchtigsten im Aufsatz; nur in der Satz- und Wortanalyse steht Koja dem Edi nach. Man merkt, dass er das Deutsch noch nicht ganz erworben hat. Aber auf dem Kirchenchor geigt einer so gut wie der andere und wenn’s nötig ist, singt jeder von beiden mit gleichem selbstverständlichen Vertrauen zu sich ein Solo, dem die Leute unten mit angehaltenem Atem lauschen; und keiner scheint sich dessen bewusst zu sein, dass er im grossen Raum vor mehr als tausend Menschen seine Stimme erschallen lässt. Ich hab’ die Gepflogenheit, vor dem Einüben der Melodien den Kindern die Bedeutung der lateinischen Wörter zu erklären, damit der Vortrag durchs Verständnis gewinne. Beim Abfragen versagen die meisten, es scheint ihnen eine unnütze Lernarbeit zu sein. Edi und Koja versagen nie. Wie lange schon mögen die sich darnach gesehnt haben, die Bedeutung der mit soviel Aufwand musikalischer Kunst ausgestatteten Worte zu erfahren! Der kleine, sehr ernste, fast zu ernste Busch-Edi ist der gebor’ne Schulmeister; den sollten Sie sehen, wie der unter seinen Kameraden mehr durch den Blick als durch Worte Ordnung hält! — Über Kojas künftigen Beruf trau’ ich mir noch kein vorgreifendes Urteil zu. Noch ist er unausgegoren, neigt zum Träumen und Tändeln; auch ist er noch unbesonnen, reizbar und gerät leicht in Zorn. Aber das wird sich geben, wenn er in eine andere Umgebung kommt. Das Hänseln und Raufen ist Bubenbrauch. Geben sie ihn nach Melk ins Gymnasium. Studieren soll er. Ich weiss wohl, dass er auch am Basteln seine Freude hat und gewiss ein guter Handwerker würde. Aber als allseitig gut beanlagter Junge, soll er sich zu einem ganzen Menschen auswachsen zum Kopfwerker und Handwerker. Er soll erst dann, wenn er die gymnasiale Matura b) hinter sich hat, sich seinen Beruf wählen. Wenn ihm der Beruf nicht Last sein wird, sondern Lust, wird er Grosses leisten zum Nutzen vieler. — Ich hab’ mich hier auf der Neudainsel und in der Mühle gut umgesehen; auch die Puppenmöbel, die Koja gebaut hat, sind mir nicht entgangen. Inmitten einer reichen Natur und eines auf Arbeitsteilung beruhenden landwirtschaftlichen und gewerblichen Betriebes, unter dem Einfluss guter Eltern, deren Leben ihm ein Vorbild ist, lebt Koja hier in einem Optimum, d. h. in seinem Besten, unter besterfüllten Bedingungen seiner Entwicklung. Ich kann Sie nur beglückwünschen und Ihnen raten: Lassen Sie ihn studieren.“ Damit erhob sich der hochgewachsene Mann und eilte, ohne eine Entgegnung der Eltern abzuwarten, in langen, wippenden Schritten quer über die gemähte Wiese, um seinen Unterlehrer in der Aufsicht abzulösen.
Als längst das von sechs Geigen begleitete Marschlied der heimkehrenden Ausflügler in der Ferne verklungen war, sass Agi noch unter der Linde. Sie sann dem fremden Worte nach, das eine so grosse Bedeutung hatte. „Optimum“ lispelte sie in Andacht vor sich hin, als spräch’ sie eine Gebetformel aus. — Was war das Optimum? — Was war das Beste? — Das eigne Haus auf eignem Grund, darin verträgliche, arbeitsfrohe Menschen, mit ihnen in guter Gemeinschaft die wohlgehegten Haustiere; rund umher der blühende Garten, Wiese und Hain, der rieselnde Bach, die singenden Vögel, die bunten Falter und als liebe Gäste fröhliche Spielgenossen. Ja, ja, das war für den Bruder das Beste, das war sein Optimum.
Koja, der die Mitschüler bis zum Erlafsteg begleitet hatte, langte mit geröteten Wangen bei der Schwester an. „Schön war’s!“ Da umfing ihr Blick die Gestalt des Bruders und blieb an seinen ausdrucksvollen Augen haften. — Ja, der war ein Besonderer. — Sie kam sich neben ihm so unbedeutend vor, als wär’ alles rund herum nur da, um als Optimum zu dienen, dass dieser besondere Bub sich auswachse zu einem ganzen Menschen. Und er sollte zunächst Student werden wie Hans Paul und Peter Urban. —
Die Getreideernte war in der Scheune geborgen. Auf den Stoppelfeldern machten sich die Sternmieren breit; und zwerghafte Rittersporne, die jetzt erst zum Blühen kamen, trugen mehr Blüten als Blätter. Der Spätsommer war da, die Pflaumen wurden blau bereift, die Äpfel bekamen rote Backen. Und es ward Herbst. Da kam eines Tages ein Brief von der Grossmutter: Sie lag seit Wochen krank und konnte nicht schlafen vor Sorgen.
Ihr Wittum a) war verschuldet und ihre Erntehoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Die Rüben waren missraten. Sie hatten zu wenig Zuckergehalt, die Fabriken zahlten dafür weniger als sonst. Jeder Bauer hatte sich verrechnet, die meisten hatten von den Fabriken zu hohe Vorschüsse genommen. Von den Verwandten war kein Geld zu erwarten.
Die Bestürzung der Müllerleute wurde zur Hoffnungslosigkeit: Noch in derselben Woche ergab das Gerichtsverfahren, dass der Agent Sigismund Sacht, den Vater Lorent in dummer Vertrauensseligkeit in alles eingeweiht, von sämtlichen Gläubigern die Schuldscheine und Wechsel erworben hatte. Nach unerbittlichem Wechselrecht führte er den Kauf der Neudainsel für eine Genossenschaft durch, die an der Stelle der alten Mühle eine grosse Seilfabrik mit modernem Turbinen-Antrieb errichten wollte. Wie selten ein Unglück allein kommt, so kam diesmal zum Verluste des Hauses der Verlust eines geliebten Menschen. Der Briefbote brachte ein Telegramm. Marie Sonnleitnerin, die gute Grossmutter, war in ihrem dreiundsiebzigsten Jahre gestorben. Und niemand von der Familie Lorent konnte zum Begräbnis fahren; wer hätte ihnen das Geld geborgt zur weiten Reise?
Mit einem Schlag war der Neudamüller ein Besitzloser geworden. Er verbrachte die Tage in stumpfer Ratlosigkeit. Nicht so die Mutter, nicht so Agi. Sie suchten für den Vater eine Anstellung. Sie fragten in der Krummnussbaumer Tonwarenfabrik an; dort war kein Kutscherposten frei; Hilfsarbeiter hatte man mehr als genug; und in der Töpferei brauchte man gelernte Gehilfen. Sie fragten in der Dampfsäge auf dem Rechen, sie fragten in Pöchlarn herum, ja sie wanderten zu Fuss drei Stunden weit nach Melk, wo sie hofften, dass der Vater als Kutscher oder Knecht im Brauhaus oder in der Meierei des Benediktiner-Stiftes unterkäme. Sie erreichten Versprechungen und Vormerkungen — bis ein Platz frei würde. Aber sie konnten nicht warten. In vier Wochen musste die Wohnung in der Mühle geräumt sein; die Wohnstube sollte das Schenkzimmer der Arbeiterkantine werden. Der Agent hatte schon die Oberstube im Hause bezogen und betrieb den Verkauf des Viehs, der Ackergeräte, der Vorräte von Holz und Mehl. Der Betrieb war eingestellt. Ein Dienstbote nach dem andern schied. Schon wimmelte es von fremden Arbeitern, die in der Au Bäume fällten, um für die Baracken Raum zu gewinnen, und Baumaterial herbeiführten. Wo der Mühlbach von der Erlaf abzweigte, wurde der Zufluss durch eine Pfostenschleuse abgeschlossen, das trockengelegte Bachbett wurde vertieft. Es musste auszementiert werden; der Betriebskanal für die Turbinen musste ja jederzeit gereinigt werden können.
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