Alois Theodor Sonnleitner
Der Vorgeschichte zum
„Haus der Sehnsucht“
1. Teil
Mit Bildern
von Professor Fritz Jaeger
6. Auflage
Saga
Kojas Wanderjahre
© 1923 Alois Theodor Sonnleitner
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570036
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Andre ziehn in ferne Gaue
Erst in ihren Jungmannsjahren.
Ich verlor als Kind die Heimat
Musste in die Fremde fahren.
Armut löste mir die Fesseln,
Die dem Kind die Freiheit nehmen;
Wandernd in Gefild und Wäldern
Lernt’ ich Angst und Mut bezähmen.
Dort wie da fand ich die Schönheit.
Und des Waldes Heimlichkeiten
Durft’ ich inniglich beschauen
Mit Erkenntnis-Seligkeiten.
Des verlorn en Reichtums Gaben
Brauchte ich nicht zu beklagen,
Denn im Innern häuft’ ich jubelnd
Schätze auf in Kindheitstagen.
Düfte, Farben, Klänge, Liebe!
Taucht empor Erinnerungen!
Denn der Alte will erzählen;
Und es lauschen schon die Jungen ...
Dr. A. Th. Sonnleitner
Über dem Osthang der Wienerwald-Berge steht die Herbstsonne. Die Silberfäden des Altweibersommers leuchten und flimmern auf der Bergheide, die vom Waldrande ostwärts niederstreicht zum Weingelände; das ist tief unten, wo die Ebene beginnt, gesäumt von Ortschaften mit spitzen Kirchtürmen und schlanken Fabrikschlöten.
Ein hochgewachsener Mann steigt oberm Perchtholdsdorfer Steinbruch sacht die kurzberaste Heide hinan. Es ist Dr. Kajetan Lorent. Ein breitkrämpiger Hut beschattet seine Stirne. Er trägt den langgestielten Geologenhammer in der Rechten. Von seiner linken Schulter hängt an breitem Riemen eine rindslederne Tasche nieder. Ein lauer Windhauch spielt mit seinem kastanienbraunen, sanft gewellten Haupthaar, das zu den breiten Schultern niederwallt; er spielt mit seinem rotbraunen üppigen Vollbart, der an den Seiten mit grauen Fäden durchzogen ist. Der Wanderer schaut zum Waldrand empor und dann südwärts, wo vom Giesshübler Höhenrücken die neue Kirche zum Himmel ragt. Wie jedesmal, wenn er diesen Weg geht, lässt er auch heute die Augen von der Kirche links hinabschweifen am Kamm der Hochleiten; dort hinter der grell weiss schimmernden Friedhofs-Kapelle weiss er das kleine Anwesen, das einst seine gute Schwester Agi als bescheidenes „Haus der Sehnsucht“ erworben hatte. Lang ist es her. Er dreht sich um und sucht das rote Ziegeldach seines eigenen Hauses im Perchtholdsdorfer Villenviertel. Lächelnd setzt er seinen Weg fort. Wie hat sich doch alles zum Bessern gewendet! Während er vorgebeugt den steileren Hang emporsteigt, fällt ihm ein gelblicher Kalkstein auf, der sich vom grauen triassischen Dolomit des Feldweges abhebt. Ein Schlag mit dem Hammer spaltet den Stein. Da kommen auf den Bruchflächen die feinstrahligen Schalen einer Pilgermuschel zum Vorschein. Es ist Leithakalk. „Der rührt doch aus der Strandzone des tertiären Meeres her, die sich tief unten am Rande des Wiener Beckens hinzieht. — Den Stein muss ein Fuhrmann verloren haben.“ Der Doktor verwahrt die Bruchstücke mit der Muschel in seiner Ledertasche. Gelbschwarzsamtene Erdhummeln und graubepelzte Bienen lenken die Aufmerksamkeit des Naturfreundes auf die schon blütenarmen, blassvioletten Sommer-Enziane und die zartweissen Blüten des Augentrostes, in denen die Immen ihre Mahlzeit suchen.
Am Waldrand angekommen, rastet Dr. Lorent auf einer Bank und betrachtet behaglich die Gegend; er lässt sich von allem willig ansprechen, was sich seinen Augen darbietet; er geht den Gedanken nach, wie sie in ihm von den Dingen angeregt werden.
Im Nordosten, unterhalb des Kahlengebirges, liegt das Häusermeer der Wienerstadt, der matt leuchtenden Donau vorgelagert; dort hat er als armes Studentlein gehungert, bis er, von der Not gezwungen, seine vielbewegte Hauslehrerwirksamkeit begann und als Tierpräparator in nächtlicher Arbeit Geld verdienen lernte. — Ein kleiner, lichtblauer Falter flattert über den Pfad und lässt sich auf der rosigen Gipfelblüte einer Hauhechel nieder. War’s nicht ein Bläuling, dessen Atlaskleidchen die Agi bewunderte, als ihr das Leben neu geschenkt war nach langer Krankheit? Da, am Rand des halbgemähten Wiesenflecks kriechen zwei der grasgrünen Räupchen des Bläulings an einer Hauhechel empor, die wohl demnächst unter der Sense fallen wird. „Nein, die sollen nicht verhungern!“ Der Doktor streift die Raupen von ihrer Futterpflanze und versorgt sie in seiner Ledertasche. — Und wieder lässt er die Blicke in die Ferne schweifen. Da drüben, jenseits der grünen Ebene des weitgedehnten Wiener Beckens, schimmern die Neudorfer Sandlehnen vom Westhang der Kleinen Karpathen gelblich herüber und fernher leuchten die Kalksteinbrüche des Leithagebirges als weisse Wunden aus den bewaldeten Hängen. Dort hat er als Vierzehnjähriger die ersten versteinerten Pilgermuscheln, Kegelschnecken, Haifischzähne und Seesterne gesammelt; aus denen hat er erkannt, dass dort die östliche Strandzone des Meeres war, das die weite Mulde ausgefüllt hat, entstanden durch den Niederbruch der Ostalpen. Wie lange das wohl her sein mochte? Jahrmillionen. Und wo das Meer hergekommen war? Von Nord und West her. Er hat auf seinen Reisen die Tierreste des tertiären Meeres in Frankreich gefunden, in Bayern, die Donau entlang, und er hat Belegstücke der tertiären Strandfauna aus Mähren, Galizien, Südrussland. Heute fruchtbare volkreiche Länder, waren sie einst bedeckt von den Fluten des warmen Meeres, das seinen Muschelund Korallenkalk absetzte auf die älteren, in noch früheren Erdperioden aufgelagerten Gesteinsmassen. Länger als auf anderen Stellen der Landschaft haften des Doktors Augen am hellen Steinbruch von Mannersdorf, der als mattweisser Fleck aus der fernblauen Masse des Leithagebirges herüberschimmert. Dort hat Agi für die Bauern Janker und Wäsche genäht, um dem Koja nach Wien wöchentlich einen Laib Brot und einen Gulden Kostbeitrag senden zu können. Agi und Mutter! Heldinnen der opferfreudigen Liebe! Ihr habt mitsammen getreulich alle Sorgen getragen, dass nur Kojas Wesenswert, dass nur seine Anlagen nicht verkümmern sollten!
Des Doktors Blick gleitet über die grüne Ebene herüber und bleibt haften am hohen Perchtholdsdorfer Glockenturm, der die Kirche überragt und die Ruinen der Burg. Von den Türken eingeäschert, ist sie nie wieder aufgebaut worden. In ihrem Gemäuer aber hat sich im vorigen Jahrhundert der greise Anatom Hyrtl sein Laboratorium eingerichtet, der gütige „Weise von Perchtholdsdorf“. — In ernster Stimmung setzt Doktor Lorent seinen Weg fort. Ein schmaler Waldpfad führt ihn im Schatten der Föhren südwärts, hügelauf und talab, bis er auf einer Lichtung anlangt, deren Grasboden hell von der Sonne beschienen ist. Hier ist die Luft warm wie an einem Sommertag; und sie ist durchsättigt vom Dufte des Thymians, der die Bodenwellen polsterig überwuchert hat. Und dieser Duft bemächtigt sich der Seele des alten Waldläufers. Wo war es nur, dass er diesen Wohlgeruch in solcher Stärke zum erstenmal eingeatmet hat? Er lagert sich in die duftenden Stauden und hängt der Frage nach. Da fällt sein Auge auf eine Kolonie silbergrauer Katzenpfötchen amit pinseligen Fruchtbüscheln, dann auf verblühtes Heidekraut, das einen flechtenbedeckten Steinblock überragt. Und auf dem Steine sonnt sich eine graue Zauneidechse.
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