Agi seufzte tief auf. „Auch von der Dummheit sag’ der Mutter nix. Später kannst ihr’s erzählen. Nur jetzt nit.“ Dann half sie ihm beim Aufschnüren der Schuhe, während er sich der Kleider entledigte. Erst als sie den Bruder zu Bette gebracht, mit ihm das Nachtgebet verrichtet, und ihm mit dem Daumen in mütterlicher Art das Kreuzeszeichen auf Stirn, Mund und Brust gemacht hatte, sagte sie ihm gute Nacht und trug die brennende Kerze davon.
Und jetzt Kam für den Buben, der noch immer nicht ans Alleinschlafen gewöhnt war, die schrecklichste Stunde des Tages. Er fürchtete sich im Finstern. Das Dunkel in seinem Stübchen war kein vollkommenes. Das Licht der Lampe, bei der unten Mutter und Agi die Briefe schrieben, drang durch die unverhängten Fenster und beleuchtete die mit „Palmkätzchen“ reich besetzten Kronen der hohen Weiden jenseits des Weges, und diese warfen einen Schimmer des Lichtes in Kojas Kammer, so dass die verschwommenen Umrisse und Schatten des Zimmergerätes gespenstisch wirkten.
Koja verkroch sich unter die kalten Federbetten, um nicht die sonderbaren Geräusche zu hören, die er sich nicht zu erklären vermochte. Und doch musste er immer wieder die Decke lüpfen, um dem Rätselhaften zu lauschen. Im alten Schrank, der nie geöffnet wurde, tickte etwas, wie eine Taschenuhr, die manchmal von unsichtbarer Hand zum Stehen gebracht wurde und dann plötzlich wieder unheimlich rasch zu gehen begann. — Die Totenuhr. — Wer sollte jetzt im Hause sterben? — Auf dem Dachboden trippelte es von kleinen Füssen, beim Mühlsteg unten klatschte etwas. Der Wassermann? Kojas Pulse hämmerten, in seinen Ohren war ein Sausen, das war nicht vom gleichmässigen Rauschen des Überfallwassers unterm Mühltrog. Erst, als sein Körper das Bettzeug gleichmässig durchwärmt hatte, begann seine Aufmerksamkeit zu erschlaffen, seine Einbildungskraft sprang von einem Gegenstand zum andern; Wassermann, Palisaden, der tintige Zopf, der Hund mit den feurigen Augen, Roserl in der Puhu-Hütte; alles stellte sich ihm kunterbunt vor; seine Hände falteten sich vor dem Munde, dann war ihm, als ruhten Agis graue Augen in Mütterlichkeit auf ihm und er schlummerte ein. — Mitten in der Nacht aber erwachte er von einem Knacken der Diele über sich auf dem Oberboden, dann hörte er ein Schlurfen von blossen Füssen, ein Rieseln zwischen Diele und Decke, dann ein Knarren, als öffne jemand das Dachfenster, und plötzlich einen langgedehnten, rauhen, zitternden Ton, wie vom Reiben eines gespannten Seiles — dann ein dumpfes Aufprallen eines schweren Körpers — und wieder das Schlurfen der nackten Füsse. — Als das kaum hörbare Schleichen und Tasten die Stiege herabkam und sich seiner Kammertür näherte hätte er schreien mögen vor Angst; wenn der Kerl jetzt da hereinkäme! — aber er biss die Zähne aufeinander und hielt den Atem an. Es ging vorbei —, dann wurde es stille. — Einschlafen konnte Koja nicht. Da scholl beruhigend von der Donauseite her das Pusten und Räderschlagen eines mühsam gegen den Strom arbeitenden Frachtendampfers. Wieviel Schlepper mit ungarischem Mehl der wohl hinter sich herzog? Das gleichmässige Geräusch wirkte auf Koja einschläfernd, aber schwere, unsicher tappende Schritte unten an der Hauswand entlang liessen ihn wieder gespannt aufhorchen. Ein Klirren von Eisen auf Stein. Der Haustorschlüssel war aus einer unsicheren Hand auf den Mühlstein vor der Türschwelle gefallen. Ein unverständlicher Fluch, ein Schnappen des schweren Türriegels, ein kurzes, freudiges Anschlagen des Hofhundes — der Vater war nach Hause gekommen.
Koja schob die Bettdecke von seinem Gesicht, strich sich das Haar sorgfältig hinter die Ohren, stützte sich auf den linken Ellbogen und lauschte angestrengt hinunter. Erst fiel die Türe der Wohnstube krachend ins Schloss, dann hörte er die tiefe Stimme des Vaters. Es war eine unwillige Frage, die Koja nicht verstand. Und jetzt hörte er die Mutter etwas sagen, dann redeten Mutter und Vater zugleich und dann sprach Agi darein. So angestrengt Koja lauschte, er vermochte nichts zu verstehen.
Plötzlich aber hörte er einen durchdringenden Schrei, dann wieder einen. Die Mutter schluchzte. Koja setzte sich im Bette auf. Und wieder vernahm er Agis hohe Stimme. Sprach sie der Mutter zu oder dem Vater? Der war still geworden. Das Weinen der Mutter wurde schwächer und schwächer, bis es verstummte. Alles war wieder still. — Der Lichtschimmer auf den Weiden verschwand. In der Kammer wurde es finster. Kojas Zähne schlugen vor Kälte und Angst aneinander, wieder verkroch er sich unter die Tuchent. c) Wieder vernahm er das Ticken im Holz des alten Schrankes; übermüdet vom Wachen und Lauschen schloss er die Augen und schlummerte ein.
Als er morgens in der durchwärmten Küche mit entblösstem Oberkörper vor dem Wasserschaff kniete und Agi mit einem eingeseiften Wollsocken ihm Rücken und Hals rieb, fiel sein Blick auf ihre Linke, die sich auf den Schaffrand stützte. Über den Rücken ihrer Hand ging eine rote Strieme. Koja drehte sich nach der Schwester um; da sah er eine breitere Strieme schräg über ihren Hals verlaufen. — Jetzt wusste er, was geschehen war: Agi hatte sich zwischen Vater und Mutter gestellt. Da schossen ihm die Tränen in die Augen: „Bitte, sag mir, liebe Agi, was war heut’ nacht?“ — Sie aber schüttelte nur den Kopf. „Mach’ die Augen zu!“ — Und schon begann sie ihm das Gesicht und die Haare einzuseifen. Dann goss sie ihm einen Krug Wasser über Kopf und Hals und entfernte sich. — Kaum abgetrocknet und angekleidet, eilte Koja mit hochklopfendem Herzen in die Wohnstube, wo das Frühstück bereit stand. Auf dem Divan, wo sonst Agi zu schlafen pflegte, sah er den Vater angekleidet liegen, den Kopf mit dem rotbraunen Vollbart zurückgeklinkt, den Mund weit offen, laut und regelmässig atmend; das rechte Bein mit dem kotigen Stiefel lag auf dem weissen Bettzeug, das linke hing über den Sofarand zur Diele nieder, auf dem Boden lag die aus Lederriemen geflochtene Hundepeitsche. Zögernd schlich Koja am Vater vorüber zu seinem Sessel. Auf einem Schemel dem Sofa gegenüber kauerte Agi, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf auf die geballten Fäuste gestützt; sie starrte dem Schlafenden ins Gesicht. Draussen war die Stimme der Mutter zu hören, die dem Kutscher des Milchwagens einschärfte, auf dem kürzeren Feldweg zum Krummnussbaumer Bahnhof zu fahren. Der Zug nach Wien müsste in zwanzig Minuten da sein. Als der Wagen fortrollte, erhob sich Agi und schenkte den Kaffee ein. Die Mutter kam herein und setzte sich zu Tische. Koja erschrak: auf ihrer linken Wange war eine kaum verharschte Wunde. Da warf er sich vor der Mutter auf die Knie, und seine hervorbrechenden Tränen netzten ihre Kleider. Sie aber hob ihn auf, setzte ihn sich quer auf den Schoss, drückte seinen Kopf an ihre Brust, tätschelte ihm den Rücken und strich ihm beschwichtigend über das flachsfarbene Haar. — Dabei wiegte sie den Oberkörper sanft hin und her, als wollte sie ein Kind einschläfern. Keiner der drei sprach beim Frühstück ein Wort. Als Agi den Tisch abgeräumt hatte, rüsteten sich die Kinder zum Kirchgang. Agi nahm ihre breite Boa aus grauen Kaninchenfellen um den Hals, um vor Neugierigen das Schlagmal zu decken; dann holte sie ihre weisse Flanelljacke aus dem Kasten, packte sie in Seidenpapier und umschnürte sie mit einem roten Band wie ein Festgeschenk. — Auf den fragenden Blick der Mutter flüsterte sie nur bittend: „Später, Mami; ich sag’ dir’s später.“ — Die Müllerin übergab Agi fünf Briefe und küsste ihre Kinder zum Abschied. Erst führte Agi den Bruder in den Garten. „Wir müssen der Roserl ein Sträusserl bringen.“ Sie pflückten die halbverblühten Dolden der braunroten Aurikeln von den Beeträndern und liessen sie im Strauss von den duftenden Blütenständen des Gelbveigels überragen. Als die Kinder an der Bachseite des Hauses an die Stelle unterm Bodenfenster kamen, zeigte Koja einen weissen Fleck auf dem Uferpflaster. Es war eine dünne Schichte Mehl, die Spur eines heftig aufgestossenen Mehlsackes. Und dann begann er von dem nächtlich Erlauschten zu erzählen. — Und Agi erklärte ihm mit der Sicherheit einer Erwachsenen: „Glaub doch nicht an Gespenster. Der alte Flori erzählt, was er selber nit glaubt. Die andern hören nix lieber als gruselige Geschichten. Die ‚feurigen Männer‘ sind ‚Irrlichter‘, leuchtende Dünste, wie sie aus dem Sumpfboden aufsteigen, wo irgend ein Aas in der Erde verwest. Der Wassermann ist die Fischotter, die bei Nacht fischt oder im Wasser ihr Spiel treibt. Das Ticken im alten Schrank, das machen die Holzwürm’. Das Schleichen, Tappen und Tasten, das machen die Dieb’, Vom Bodenfenster hat ein Knecht einen Mehlsack am Strick hinuntergelassen und unten, wo der Sack hingefallen ist, siehst du die Mehlspur. Dort hat ein zweiter Dieb gewartet. — Seit die schlechten Freunde den Vater soweit gebracht haben, dass er die Nächt’ in Wirtshäusern zubringt bei Kartenspiel, Bier und Schnaps, haben’s die Diebe leicht. Ich glaub’, alle unsere Dienstboten haben stehlen g’lernt.“ Koja nickte. Und nun begann er die Schwester auszufragen, was unten gewesen wäre. Eine Weile liess sie ihn auf sich einreden. In tiefem Nachdenken ging sie neben ihm her. Ihre Augen hefteten sich auf den feuchten Auboden, wo die Grashalme zwischen dem braunen Laub sich empordrängten und wo vereinzelt hoch aufgeschossene, zum Teil verblühte Schneeglöckchen schimmerten. Sollte sie reden? Erst als die Kinder die Au und den Erlafsteg hinter sich hatten und im freien Felde der Sonne entgegengingen, begann sie: „Koja, du warst bis heut’ ein kindischer Bub, ich wollt’ und durft’ nit reden mit dir, wie’s um den Vater steht. Von heut’ an ist’s anders. Was du heut’ nacht erlauscht hast, hat dich wohl ernster gemacht. Du sollst versteh’n, warum die Mutter dem Vater so oft verzeiht. Geh’ doch langsamer und hör’ gut: Erinner’ dich doch, was uns die Grossmutter erzählt hat, als du noch klein warst: Wie unser Vater zehn Jahr alt war, sind ihm beide Eltern innerhalb sechs Wochen gestorben. Damals war die Cholera in Böhmen, wo wir früher zu Haus waren, weisst, dort, wo die Mutter unserer Mutter daheim ist, die ‚Sonnleitnerin‘, die uns zu Weihnachten immer einen Sack gedörrte Zwetschgen schickt. — Und wie der Vater verwaist war, hat ihm das Gericht einen Vormund gegeben an Eltern Statt, der hat ihn anhalten sollen zum Lernen und Bravsein. Der hat das Elternhaus des verwaisten Buben sparsam bewirtschaftet, aber zum Lernen angehalten hat er den kleinen Vincenz nicht. Nur dass er ihn auf Tausch nach Herrnskretschen gegeben hat, damit der Bub deutsch lernt. Dann aber hat er ihn Küh’ hüten lassen, statt ihn in die Schul’ zu schicken. Und dann ist der Vater Knecht gewesen beim Vormund. Und vom Gesind hat er in der Wochen das Fluchen gelernt und am Sonntag das Trinken. Und wie er gross war, hat ihm der Vormund das Haus mit Wald und Feld und Wiesen übergeben müssen als Erbstück von den Eltern. Und dann hat der Vater die Mutter g’heirat’, die hat von ihren Leuten ein Wirtshaus bekommen als Heiratsgut. Und da war der Vater auf einmal ein zweifach reicher Mann und hat viele Freund’ g’habt. Die haben mit ihm getrunken und Karten g’spielt um hohe Einsätz’. Und weil er gut war, hat er Geld hergeborgt, viele Tausend Gulden. Er hat nicht nein sagen können, wenn ihn die Leut’ gelobt und recht gebeten haben. Und oft hat er im Rausch gekauft, was man ihm verkaufen wollt’, wenn er’s auch nicht gebraucht hat; schöne Pferd’, Kaleschen, d) Holz zum Bauen, Schmucksachen, Bilder. Auf die Jagd ist er gangen mit anderen reichen Herren, so wie er’s da macht, in der Neuda, seit er vom Onkel Lorent die Mühl’ geerbt hat. Zwei schöne Jagdhund’ hat er g’habt; denen hat er in den Wirtshäusern Frankfurter-Würstel, Kalbsbraten und Schweinsbraten auf dem Teller vorsetzen lassen; so hat er das Geld vertan, weil der Vormund ihn nicht gelehrt hat, mit dem Geld richtig umzugehen. Der Vater könnt’ nix dafür, sagt die Mutter, schuld an allem wär’ der Vormund, der nicht gewusst hat, was er damit anrichtet, wenn er den Waisenbuben so aufwachsen lasst. Und die Mutter hat g’hofft, sie könnt’ den Vater anders machen. Aber sie konnt’ ihm nit wehren, weil er jeden Tag angetrunken war und grob mit ihr. Und just wie du vier Jahr alt warst und ich sechse, hat uns das Gericht alles verkauft, den Bauernhof, das Wirtshaus, die Wiesen, die Felder und den Wald.“ Koja nickte; er erinnerte sich daran. „Und dann ist unser Wandern angegangen. Du weisst doch, dass der Vater als Bremser bei den Schotterzügen angestellt war, wo gerade eine neue Bahn gebaut worden ist; in Alt-Paka, droben in Böhmen, dann in Leobersdorf, dann in Gaming, im Österreichischen.“ — „Das weiss ich doch!“ warf Koja ein. — „Aber dann ist grad unser Grossonkel g’storben, der uns nie hat helfen mögen und den wir nie gesehen haben, weisst, der Onkel vom Vater, der die Neuda-Mühl’ g’habt hat. Und der Vater hat die Mühl’ bekommen und war wieder ein reicher Mann. Jetzt sind wir das zweite Jahr da. Der Vater hat eine Zeit lang gut getan, solang er nicht allerhand Freund’ gehabt hat, die ihn zum Kartenspiel ang’lernt haben, zum Jagen geh’n und zum Trinken. Und weil er mehr Geld ausgibt, als wir fürs Mahlen und Bretterschneiden, für Milch und Eier kriegen, hat er wieder Schulden gemacht, jetzt verlangen die Leut’ ihr Geld und haben den Vater verklagt. Gestern ist vom Gericht die Vorladung gekommen und zwei Advokatenbriefe. Die Mutter und ich haben gerechnet und gerechnet. Was wir haben, wird nicht langen; das Gericht wird uns die Mühl’ verkaufen und wir werden wieder arm sein. Und das hat ihm die Mutter gestern nacht g’sagt, weil er bös war, dass sie schon wieder verweinte Augen ghabt hat. — Er hat ihr die Schuld gegeben, sie hätt’ sollen besser haushalten. — Da hab’ ich ungefragt dreing’redt. Und was dann geschehen ist, das frag’ mich nit. — Die Mutter will nit haben, dass es laut wird. Und sie sagt, der Vater wird wieder so gut, als er eigentlich ist — wann er wieder arm sein wird und nimmer so viel trinkt.“ — Trotz allen Leides, von dem Koja jetzt erfahren, hatte er ein zages Frohgefühl in sich, das ihm aus den Augen sah: Er kam sich wichtiger vor als je; Agi hatte zum erstenmal mit ihm geredet wie mit einem Grossen. Er war nimmer der dumme Bub von gestern. Agis Wort: „Wir werden arm sein,“ hatte auf ihn wenig Eindruck gemacht. Das Armsein dachte er sich ungefähr so, wie das Leben in Altpaka, wo er so glücklich gewesen war mit der kleinen Julie, oder wie das Spielen in der Puhu-Hütte, wo das Bänklein wackelte und die Spinnweben in den Ecken hingen.
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