Schon während seiner Arbeit hatte er bemerkt, dass hin und wieder jemand in den abgelegenen Raum kam und in dem Regal irgend etwas zu suchen schien, dann aber wortlos wieder verschwand. Und nun liessen sich gleich mehrere Leute zusammen sehen. Es waren Neugierige, aus den Nebenwerkstätten, die sich den „Feinen“ begaffen wollten. Denn so hatte Knox ihn sogleich getauft und hinzugefügt, dass das ein „Vollongtöhr“ sei, der sich das Arbeiten „angewöhnen“ wolle.
Zwischen zehn und elf tauchte auch Herr Geiger auf, der ein fabelhaftes Gedächtnis für alle Vorgänge in seiner Fabrik hatte, und an diesem Vormittage sich auch gleich dieses merkwürdigen Arbeiters entsann. Tempel hörte seine laute Kommandostimme schon durch die Tür, und so erhob er sich denn sofort, als der Chef mit dem Werkführer eintrat.
Wie gewöhnlich steckte Nante in seinem modernen, blauen Cheviotsakko, wozu die dunkelrote Krawatte ihr knallendes Farbenspiel gab, denn er gehörte zu jener Sorte Emporkömmlinge, die äusserlich nicht als „Schuster“ gelten wollten, wenn sie ihn auch sonst nicht ganz ablegen konnten.
Nante lachte schon bei seinem Morgengruss: „Bleiben Sie nur ruhig sitzen, so was jibts hier nich bei der Arbeit,“ sagte er dann. „Kostet nur Zeit — so’ne überflüssige Höflichkeit. Wenn hier alle aufstehen wollten vor mir, — wär ’ne schöne Bammelparade.“
Die Zuvorkommenheit Tempels berührte ihn aber doch angenehm, und so blieb seine Gemütlichkeit auf der Höhe. Er prüfte die Arbeit, drehte sie nach allen Seiten und sah dann ein Weilchen zu, wie Tempel schaffte.
„Na, es geht ja, allabonnöhr,“ fing er an zu loben. „Knox hat mir schon gesagt, dass Sie sich gut anstellen. Fleiss ist die halbe Arbeit. Man sieht doch gleich was Intelligenz ist und was die Bildung macht. Ich sage immer: ein offener Kopp geht, in die Hände.“
Das war so eine seiner Sentenzen, die er in seinem Betriebe gern zum besten gab.
Und er sagte zu Tempel, dass er ihm, wenn er sich weiter so bewähre, vorläufig zwanzig Mark Wochenlohn geben wolle, und beauftragte Knox, das Lohnbuch danach anzulegen.
Dieser Mensch tat ihm nicht nur leid, sondern bewegte wieder seinen Gedanken über den „Edelarbeiter“. Und so musste er sich persönlich um ihn bekümmern.
Und als er den Dank Tempels dafür eingesteckt hatte, ging er wieder, diesmal aber durch den Lagerraum, von wo aus seine Stimme noch zurückschallte: „Peters lassen Sie sich die Haare schneiden. Sie werden noch schielen lernen.“
Er wusste zwar, dass es doch nichts helfen würde, aber es schadete nichts, wenn er es immer wieder sagte.
Die Fabrikpfeife pfiff die Mittagsstunde, und Tempel wusste kaum, wie schnell ihm die Zeit vergangen war. Er wusch sich die Hände, zog sich die blaue Bluse von seinem Oberhemd und würgte sich rasch den Kragen um, denn um halb zwei Uhr hatte er wieder anzutreten. Werkführer Knox, der immer den Bevorzugten sah, meinte zwar, er könne ja etwas später kommen, aber Tempel lehnte dankend ab mit dem Bemerken, dass er sich der Fabrikordnung fügen wolle.
Eine Art Fanatismus war über ihn gekommen, die Aufgabe nach dem Testament zu erfüllen, und sollte es ihm die halben Knochen kosten. Nicht nur seiner Mutter wegen, sondern auch um Lüssis willen, der er in seiner Pein liebevoll geschrieben hatte, er müsse auf acht Tage verreisen und werde dann am nächsten Sonntag wieder erscheinen. Mochte sie das als kleine Strafe für ihr Misstrauen betrachten, aus dem er sich übrigens nicht mehr so viel machte.
Donnerwetter ja, — es war doch keine Kleinigkeit, plötzlich so das Bewusstsein zu haben: du trägst die Anweisung auf eine halbe Million in der Tasche, du musst nur den Fälligkeitstermin abwarten. Liebte sie ihn wirklich, so brauchte sie nur ruhig mitzuwarten.
Auf das Geradewohl ging er in eine Schankwirtschaft in der Nähe, auf deren breiten Schaufenster die Worte „Billiger Mittagstisch“ prangten. Die Bezeichnung „Zum sauberen August“ hatte ihn besonders gelockt. Und in der Tat hielt der Dicke Vater Jäckel drinnen das, was er draussen angeschrieben hatte. Hinter dem grossen, ladenartigen Vorderraum, in dem es um diese Zeit nicht besonders lebhaft zuging, lag ein kleines Speisezimmer, zu dem eine Stufe hinaufführte. Vorn war so zu sagen mehr die Destille; hier durften sich bessere Gäste niederlassen.
Jäckel, der sofort einen „Besseren“ witterte, aber augenbl lich wie ein kleiner Elefant an seinem Bierapparat hantierte, gab sofort seiner drallen, rotwangigen Tochter den nötigen Wink. Und die dicke Trude watschelte denn auch auf den Gast zu, wobei ihre starken Hüften wie ein schwankendes Boot auf und nieder gingen.
„Kann man hier immer dinieren, schönes Fräulein?“ fragte Tempel so in der Galgenhumorstimmung, in die ihn dieser erste Vormittag versetzt hatte.
Trude musste diese Anrede aus solchem Munde lange nicht mehr gehört haben, denn sie strahlte ihr schönstes Vollmondlächeln aus, und was sie unter Erröten hervorlispelte, klang wie verschämt-verworrenes Zeug.
Viel angenehmer wurde dann Tempel von der Fülle dampfender Kartoffeln berührt, die ihm neben dem deutschen Beefsteak serviert wurde. Es war unverkennbar, dass sie es von Anfang an gut mit ihm meinen wollte.
„Mutter sagt eben, wenn der Herr hier immer essen täte, dann richte sie sich darauf ein,“ lispelte sie wieder, ersichtlich bemüht, als etwas Besseres zu erscheinen.
„Sehr liebenswürdig von Ihnen,“ sagte Tempel zum Danke.
Und „Mutter“ kugelrund wie Mann und Tochter, stand auch schon, die Hände über dem mächtigen Leib gefaltet, in der geöffneten Küchentür und nickte freundlich herein, ungefähr wie zu einem guten Bekannten.
„Dat is man heite wedder ’n bisken stille, weil’s Montag is,“ begann sie in der Mischmaschsprache der Zugezogenen, „da haben se noch alle am Sonntag zu knabbern, aber sonst hab’n wer janz schöne Mittagsjäste. Und was so de Techniker sind von de Fabriken, die sind ooch all’ mang. Nich wahr, Trudchen?“
Sie sah in dem neuen Gast etwas Ähnliches und wollte damit andeuten, dass er hier gut aufgehoben sei.
Und Tempel musste sich sagen, dass man sich hier für sechzig Pfennige nicht beklagen könne, was er sich damit zusammenreimte, dass eine Athletenfamilie jedenfalls am besten wissen müsse, wodurch man sich das Fett erhalte. Es war auch alles sehr mundgerecht aufgetragen, mit extra sauberer Serviette und auf einem reinen Tischtuch, das „Trudchen“, die diese zierliche Benennung nur in den Augen der Mutter verdiente, vorher ausgebreitet hatte. Und Tempel gelobte sich, auch hier auszuhalten, wo niemand ihn kenne und man an seiner zweiten Garnitur keinen Anstoss nehme.
Und während er hastig sein Essen verschlang und das dünne Bier dazu trank, und während der dicke August, genannt der Saubere, unten den Gästen aus dem Phonographen die Herbstparade auf dem Tempelhofer Feld samt Musik und Kommandotönen zum Besten gab, dachte er daran, was der Geheime, seine Gattin und die verwöhnte Lüssi dazu sagen würden, wenn sie ihn hier so im „Separee der Destille“ sitzen sehen würden, den Blick auf die Uhr gerichtet, damit er die aufgezwungene Tretmühle nicht versäume. Und die lieben Freunde erst! Die schönen Frauen seiner Bekanntschaft! Und der ganze elegante Vergnügungsrummel, in dem er sich bis jetzt bewegt hatte!
Aber Tempel dachte aufs neue: Lass’ sie denken, was sie wollen.
So verputzte er denn das Beefsteak mit Genuss, liess aus Anstand die Hälfte der Kartoffeln auf dem Teller und griff beim Bezahlen der lieben Trude in die runden Wangen, damit sie ihn bis morgen im Gedächtnis behalte: des reinen Tischtuchs und der sauberen Serviette wegen, und nicht minder mit Rücksicht auf die gute Verpflegung.
Als er am Sonnabend seinen Lohn in der Tasche hatte und um sechs Uhr auf die Strasse trat, kam er sich wie ein Held vor. Verschiedene Stufen der Empfindung hatte er durchgemacht: zuerst die Traurigkeit, dann die Neugierde, und zuletzt die Gleichgültigkeit.
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