Er ging erst ein Stück Weges, oder vielmehr: er tappte sich eilig durch den Nebel, fröstelnd, noch den halben Schlaf im Kopf, aber doch schon merkwürdig flink auf den Beinen. Vor sich und hinter sich hörte er Schritte, ohne dass er die Menschen sah. Hin und wieder gähnte ein erleuchteter Bäckerladen, in dem eine Mamsell träge sich rührte. Er sah den Lichtschein schon am geröteten Nebel. Die Strassen wurden belebter, und immer häufiger tauchte eine dunkle Gestalt auf wie aus der Erde gewachsen, durch die Plötzlichkeit in übermenschlicher Grösse erscheinend.
Wie ein ungeheurer, gespensterhafter Schatten wuchs ein Kirchturm in die Luft, den er im Augenblick nicht gleich erkannte. Das Hufeisen eines Pferdes schlug auf; er hörte das Schnauben und sah das Geistergefährt in Wolkenfarbe an sich vorüberziehen.
Dann sass er in der Strassenbahn, Linie Schlesisches Tor, und wunderte sich, wie viele Fahrgäste der Wagen schon hatte. Es waren auch Mädchen darunter, und jedes hatte die eingewickelten Stullen im Schoss. Aber alle, Arbeiter und Arbeiterinnen, starrten wortkarg vor sich hin. Eine alte Frau, ganz in ein Kopftuch vermummt, eine offene Markttasche zur Seite, aus der der Kopf einer Flasche ragte, sass in der Ecke und schlief. Jedenfalls kam sie von der Nachtarbeit und fuhr nach Hause. Und neben ihr sass ein eleganter Bummler, die Beine von sich gestreckt, den Hut ins Genick gedrückt, und schnarchte mit offenem Munde. Ähnliche Schlummerfahrten während seiner Studentenzeit fielen Tempel ein; jetzt aber, mit klaren Augen, kam ihm dieser Anblick unwürdig und ekelhaft vor.
Dann, beim gleichmässigen Rollen des Wagens, das etwas Beruhigendes für ihn hatte, liess er die häusliche Morgenszene noch einmal an sich vorüberziehen. Er sah die Mutter, notdürftig bekleidet, an seinem Bette stehen, und ihn mit aufgelöster Stimme fragen, ob er doch nicht lieber liegen bleiben wollte. Sie weinte und jammerte, als würde er zur Hinrichtung abgeholt werden. Aber es half nichts: sie musste sich an die Kaffeemaschine machen, die sie am Abend vorher schon bereit gestellt hatte, denn das Mädchen durfte bei Leibe nichts von dem Vorgang wissen, wenigstens vorläufig nicht, bis man eine Ausrede gefunden hatte. Denn die klatschte im ganzen Hause herum, und gewiss hätte man es so ausgelegt, als wäre bei Tempels schon die grösste Armut eingezogen. Im übrigen höffte Frau Baumeister noch im stillen, dass ihr Sohn am ersten Tage genug davon haben und reuig zu den fünftausend Mark zurückkehren würde.
Aber Waldemar blieb fest, und so kam der Abschied mit Tränen und Verwünschungen gegen den „Kerl von Onkel“, der sich den ganzen Plunder lieber in den Sarg hätte mitnehmen sollen.
„Manteuffelstrasse!“
Der Schaffner rief es, und Tempel stieg mit aus, um von hier aus den nächsten Weg zu Geigers Fabrik zu nehmen. Es dauerte nicht lange, so liess er sich von dem schwarzen Strom der Arbeiter mit forttragen, hinein in das breitklaffende Maul des roten Ungeheuers, dessen hundert blinde Augen nun, schon sanft durchleuchtet, in den dunklen Morgen starrten.
Lagerverwalter Peters war noch nicht da, denn der kam immer etwas später. Dafür empfing ihn Werkführer Knox ein blatternnarbiger Mann mit spitzem, schon kahlem Schädel und abstehenden Ohren, der nicht recht wusste, was er mit ihm anfangen sollte. Dieser „Neue“ sah doch zu sehr nach einem Herrn aus, obwohl er sofort sein Paket aufgerissen hatte und grüne Schürze und blaue Bluse sehen liess (alles Dinge, die Frau Tempel am Sonnabend nach Mass gekauft hatte); aber auch diese Sachen hatten so einen gewissen Sonntagsgeschmack.
Verflixt, verflixt! Werkführer Knox, der die Stahlbrille immer weit auf der Nasenspitze trug, wenn er jemand fixierte, stand unschlüssig da, die Linke gegen die Hüften gestemmt, während der Zeigefinger der Rechten eine kleine Juckerei auf dem Schädel vornahm, was immer das Signal zum Gedankensammeln war. Jedenfalls war es diesmal das Kennzeichen eines kritischen Falles.
Endlich kam die Frage: „Wat sind Sie eigentlich von Fach, Herr ....?“
Lagerverwalter Peters hatte ihm schon das persönliche Interesse des Chefs an diesem „Feinen“ gesteckt, und so fehlte ihm die rechte Traute.
„Jar nischt,“ fiel Tempel gleich im Werkstatton ein, aber doch mit einer gewissen liebenswürdigen Verbindlichkeit.
„Na ville is det jerade nich,“ sagte Knox gemütlich und juckte seinen Schädel weiter. Eigentlich hätte er ja grob werden müssen, aber an diesen Menschen war nicht heranzukommen, denn er hatte so „etwas“. Verflixt, verflixt!
„Es bleibt ooch nischt übrig, wenn man wat davon abzieht“, berlinerte Waldemar drauf los, wobei er sich seiner etwas rüdigen Jugendzeit erinnerte, als er auf dem Tempelhofer Felde die Drachen steigen liess.
Im Lagerraum nebenan, dessen Tür offen stand, lachte ein Bursche hell auf.
Und sofort schoss Knox auf die Türe zu.
„Behalt deine Lache für dich, Ede, verstehst de!“ rief er hinein. „Die Sache is jar nich so lächerlich.“
Schon vorher hatte Tempel ein Plantschen und Schrubben da drinnen gehört, und als er nun ebenfalls einen Blick hineinwarf, sah er einen jungen Menschen stehen, der damit beschäftigt war, die Dielen aufzuwischen. Er wäre ihm wohl fremd geblieben, wenn Werkführer Knox nicht wie zur Entschuldigung hinzugefügt hätte: „Det is nämlich Ede, unser Faxenmacher, damit Sie’s man gleich wissen. Denn der wird Ihnen wohl bald was vormachen. Sonst ’n juter Junge, bloss togen tut er nischt.“
„Wer’s glaubt, der wird selig und isst de Klösse fröhlich,“ klang eine klare Stimme zurück, so mit einer gewissen hochgeschraubten Betonung.
„Dichten tut er ooch“, sagte Knox wieder. Und dann kam wieder die Belehrung ins Nebenzimmer: „Hier brauchst de keene Vorstellung zu jeden, det mach’ abends ab.“
„Herr Geiger war schon so freundlich, mich auf dieses Talent aufmerksam zu machen,“ warf Tempel ahnungslos ein.
Da zeigte sich das hübsche Gesicht des Jungen im Türrahmen. Sein grosses Auge ging verdutzt auf den Fremden, dann aber huschte ein verklärtes Lächeln über die blassen Züge.
„Da hören Sie’s doch, Herr Knox,“ sagte er frischweg.
Nu haben Se aber wat anjerichtet,“ meinte der Werkführer etwas kläglich und nahm das Jucken wieder auf. „Na, dann kommen Se man mit,“ sprach er weiter und ging Tempel voran in den hintersten Raum, der klein und noch dunkel war.
Die gemütliche Unterhaltung hatte ihm endlich den Mut gegeben, sich seiner Herrschaft hier zu erinnern.
Um acht Uhr erst, als die Frühstückspause begann, kam Tempel einigermassen zur Besinnung.
Man hatte ihn an ein kleines Balancier gesetzt, wo er zierliche Rosetten „drücken“ musste. Das ging sehr schnell und war eigentlich eine Spielerei, die anderswo Mädchen verrichteten. Hier machten es gewöhnlich die Jungen. Es war sehr einfach: man legte die runde Messingblechscheibe auf die Matrize, nahm den Griff des Balanciers und drehte los, so dass die Kugel herumflog. Dadurch senkte sich der Stempel und presste die Form. Es gehörten nur Übung und Geschicklichkeit dazu, um eine hübsche Portion Arbeit zu verbringen.
Werkführer Knox, der sich keinen anderen Rat wusste, hatte ihm diese Beschäftigung zugeteilt, damit er einmal sehe, wie dieser Sonderling sich anstelle. Mochten die Herren vom Kontor dann weiter ihre Order geben.
Und nun sass Tempel auf seinem Sessel und ass die belegten Brote, die, sauber in weisses Papier eingewickelt, ihm seine Mutter mitgegeben hatte. Und merkwürdig, es schmeckte ihm, denn das Frühaufstehen und die Arbeit hatten ihm Appetit bereitet. Nur in seinem Kopfe sah es dämlich aus, wie er sich gestehen musste. Und in seinem rechten Arm, besonders am Ellenbogengelenk, fühlte er eine Art Erschlaffung, die er beinahe mit einer Lähmung verglich. Es war ihm, als würfe er noch immer das Ding da hinter sich herum, trotzdem er doch ganz stille sass.
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