War alles ein einziger Bluff gewesen, eine Illusion, eine Autosuggestion? Hatte sie sich nur eingebildet, bis über beide Ohren in Josef verliebt zu sein?
Aber konnte man sich überhaupt jemals sicher sein, wenn es um Gefühle ging?
Die Antwort auf diese Fragen erschien ihr plötzlich vollkommen uninteressant, wie etwas absolut Überholtes. Was wirklich zählte, war, was jetzt mit den Kindern geschehen würde. Warum sollte er so selbstherrlich über Stefans und Marias Zukunft bestimmen? Warum ging er ganz selbstverständlich davon aus, dass sie es viel besser bei ihm in London hätten als bei ihrer Mutter in Schweden?
Alles drehte sich nur um Prestige. So viel begriff sie. Josef dachte nicht in erster Linie an das Beste für die Kinder, sondern an sein Selbstwertgefühl. Das war ihm wichtiger als alles andere.
Typisch Josef, dachte sie verächtlich, sich und seine Bedürfnisse immer an erste Stelle zu setzen.
Von einer plötzlich aufflammenden Wut erfüllt, stand sie auf und trat ans Fenster, von wo aus sie auf den langsam abnehmenden Verkehr auf den Straßen dort unten schaute. Der Samstagabend hatte begonnen.
Jasmin beschloss, freiwillig keinen Zoll zu weichen.
Sie würde Josef bekämpfen, koste es, was es wolle.
Er würde seinen Willen nicht bekommen. Diesmal nicht.
Er, der große Karrierist, konnte ja gern in London schuften, während die Kinder dort lebten, wo sie hingehörten.
Bei ihr.
Bei dem Menschen, der ihnen das Leben geschenkt hatte.
Das krampfhafte, ungleichmäßige Atmen zeigte ihm, dass sie unruhig schlief, und als sie vor sich hin wimmerte, war ihm klar, dass sie mal wieder einen Albtraum hatte.
Um sie nicht zu wecken, glitt er ganz vorsichtig aus dem Bett und schlich barfuß aus dem Schlafzimmer. In der Tür drehte er sich um und warf einen ängstlichen Blick auf seine Frau.
Eva-Louise lag auf dem Rücken. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, die Nasenflügel bewegten sich bebend, als sie ein paar leise Schnarchlaute von sich gab, die eher einem Schluchzen ähnelten. Nach einer Weile drehte sie sich auf die Seite, und sofort hörte das Jammern auf.
Er liebte sie. Mehr als je zuvor.
Es schien ihm, als würde seine Liebe zu ihr mit jedem Tag größer werden. Und dabei war er doch bereits bei ihrer Verlobung vor fast zwanzig Jahren fest davon überzeugt gewesen, dass er auf dem Gipfel seiner Leidenschaft für diese Frau stand, die ihn den Rest seines Lebens begleiten sollte. Jetzt war er aufgeregt. Er konnte das Unbehagen nicht länger zügeln, das sich in ihm ausbreitete. Etwas stimmte nicht, etwas war mit ihr nicht in Ordnung. Sie war abwesend und brauste bei jeder Kleinigkeit auf, und sie wirkte bedrückt. Außerdem schlief sie schlecht, sie, die doch immer so unglaublich gut und tief hatte schlafen können. Wie oft hatte er sie um die Fähigkeit beneidet, so schnell und problemlos in den Tiefschlaf zu versinken, während er sich neben ihr drehte und wendete.
Doch in den letzten Nächten war sie es gewesen, die Schwierigkeiten mit dem Schlaf gehabt hatte. Sie hatte sich nicht beklagt, aber natürlich hatte er ihre Pein bemerkt, während er neben ihr lag und so tat, als schliefe er schon.
Er hatte sich nicht getraut, sie nach ihren Sorgen zu fragen, hatte vielmehr gehofft, sie würde sich ihm von selbst anvertrauen, sobald die Zeit dazu reif war. Intuitiv war ihm klar, dass Eva-Louise den ersten Schritt machen musste. Es würde schief laufen, wenn er seine eigene Beunruhigung zeigte. Am besten, er wahrte den Schein und wartete geduldig, auch wenn es ihm schwer fiel.
Ein schrecklicher Gedanke überfiel ihn. Vielleicht war sie ja ernsthaft krank, vielleicht hatte sie sich deshalb in letzter Zeit so sonderbar verhalten.
Die Idee erschreckte ihn zutiefst. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er auf einen solchen Schicksalsschlag reagieren würde.
Mit aller Kraft schob er diese Gedanken beiseite.
Thure Castelbo ging ins Bad, wog sich automatisch, ohne überhaupt das Ergebnis zu registrieren, pinkelte und stellte sich unter die Dusche.
Er war ein etwas untersetzter, aber ziemlich durchtrainierter Mann mit markantem Kinn und durchdringendem Blick. Er stammte aus einer Bauemfamilie aus Südskånen. Sein Vater war ein begeisterter Lokalpatriot, der gern betonte, dass er südlich der Landesstraße geboren worden war, wie er die Straßenverbindung zwischen Trelleborg und Ystad zu bezeichnen pflegte.
»Das ist der Strich, der Schweden in zwei ungleiche Hälften teilt«, pflegte sein Vater zu sagen, und Thure fand diese Formulierung amüsant.
Zumindest die ersten sieben, acht Male.
Es war geplant gewesen, dass der älteste Sohn den Hof übernehmen sollte. Schlechte Zeiten (in Kombination mit misslungenen, weitreichenden Aktienspekulationen) hatten jedoch dazu geführt, dass der landwirtschaftliche Betrieb in Konkurs ging. Thure ging stattdessen zur Polizei, während sein jüngerer Bruder Måns eine Ausbildung als Elektriker in Ängelholm begann – er war inzwischen bei der Bahn in der gleichen Stadt beschäftigt.
Der Vater war enttäuscht von ihrer Berufswahl. Er hatte natürlich gehofft, die Söhne würden sich etwas suchen, das eine Verbindung zur Landwirtschaft hatte, aber er protestierte nur halbherzig und pflichtschuldig, wohl wissend, dass er selbst es gewesen war, der den Hof aufs Spiel gesetzt hatte, und niemand sonst.
Bis vor nicht einmal zehn Jahren hatte Thure den Nachnamen Mårtensson getragen, aber gegen seinen eigenen Willen hatte er einem Namenswechsel zugestimmt, initiiert von seiner Ehefrau. Eva-Louise stammte aus einer kleinen Stadt namens Slottshem und hielt es für eine phantastische Idee, daraus eine freie Teilübersetzung ins Englische zu machen und diese dann als Nachnamen zu benutzen.
Thure Mårtensson sah das anders.
Er fand die Idee peinlich und undurchführbar.
Dass er zum Schluss dann doch bei dem Namenswechsel mitmachte, lag einzig und allein an einer Sache: an seiner Liebe zu Eva-Louise. Er konnte sie ganz einfach nicht durch eine unumstößliche Haltung verletzen, aber zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass er zumindest sehr lange für Mårtensson kämpfte. Der Name war zumindest nicht sang- und klanglos untergegangen.
Immer wieder hatte er sich Vorwürfe gemacht und gefragt, ob er denn wirklich lange genug standhaft gewesen war – noch heute hegte er gewisse Schuldgefühle, weil er sich hatte überreden lassen. Denn was war an Mårtensson so schlecht? Castelbo – das klang doch ziemlich snobistisch, und alle, die ihn kannten, wussten, dass er eine einfache, gradlinige Person ohne große Ambitionen war.
In einem Punkt war er jedoch unerschütterlich geblieben: Er hatte sich geweigert, diesen schmachvollen Namenswechsel seinem Vater und seinem Bruder selbst mitzuteilen.
»Es ist deine Idee gewesen, also erklär du ihnen jetzt auch, warum Mårtensson für dich nicht mehr gut genug ist, wo er doch mehrere hundert Jahre lang gut genug war.«
»Natürlich ist Mårtensson gut genug«, hatte sie ganz unbeschwert und fröhlich entgegnet. »Nur ist Castelbo einfach noch besser. Aber dem Angriff werde ich schon trotzen können.«
Er wusste, dass sie mit den südskånischen Mårtenssons gut zurechtkam, und sie hielt ihr Versprechen und redete mit Schwiegervater und Schwager. Beide akzeptierten den Namenswechsel (was blieb ihnen auch anderes übrig?) und schüttelten lächelnd den Kopf über diese erfindungsreiche junge Frau aus Slottshem, während sie gleichzeitig insgeheim Thures Mangel an Courage und Familienloyalität verfluchten.
Er hätte dagegenhalten müssen. Sie selbst konnten nichts ändern.
Nach der Dusche zog Thure Castelbo nur Jeans und T-Shirt an, da er heute freihatte, und zu seiner Überraschung fand er seinen ältesten Sohn Erik schon am Frühstückstisch. Der schlief doch sonst samstags immer lange.
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