Vielleicht war es reiner Zufall, vielleicht hatte der Anrufer nur den Finger durch das Telefonbuch fahren lassen und einen weiblichen Namen auf gut Glück herausgepickt.
Die Vorstellung war tröstlich, auf jeden Fall sehr viel angenehmer als der Gedanke, sie könne aus irgendeinem bestimmten Grund ausgesucht worden sein, nach genauer Begutachtung irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Vielleicht hatte er sie nur ausgewählt, weil sie in einem ziemlich großen und abseits gelegenen Holzhaus in einem dünn besiedelten Stadtteil lebte.
Diese Perspektive erschreckte sie mehr als alle anderen.
Das würde ja etwas ganz Schreckliches bedeuten: dass er sie irgendwann aufsuchen konnte, wenn sich die passende Gelegenheit bot und wenn er sich sicher war, das sie wirklich allein war.
Sie vermisste ihre Mutter. Auch wenn ihre Mutter schon alt und gebrechlich war, so hätte sie sich doch sicherer gefühlt, wenn sie noch im Haus wohnte. Sie hatte ihre Mutter nicht überreden können, bei ihr zu bleiben und nicht in dieses Altenwohnheim im Süden zu ziehen.
Dolly hatte die Möglichkeit, sich über ihre Arbeitsstätte ein Gerät zu kaufen, das die Nummer des Anrufers anzeigte, aber sie wusste auch, dass es kein Problem war, sich hinter dem, was so locker als »geschützte Nummer« bezeichnet wurde, zu verstecken. Und ihr war natürlich klar, dass der Anrufer nicht so dumm sein würde, sein eigenes Telefon zu benutzen.
Deshalb war der Kauf einer Anruferkennung im Augenblick nicht aktuell.
Vielleicht später.
Dagegen überlegte sie ernsthaft, ob sie sich eine Geheimnummer zulegen sollte, die sie dann nur ihren nächsten Angehörigen und zuverlässigen Freunden geben würde: Mama, dem Chef, Anna, ein paar ihrer Arbeitskolleginnen, vielleicht noch einigen anderen.
Aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht entschieden. Außerdem wusste sie, dass es Wege gab, auch eine Geheimnummer herauszukriegen, wenn man sich nur genügend anstrengte.
Sie hoffte natürlich, dass diese Belästigung ganz von allein aufhören würde, dass der Anrufer ihrer müde wurde oder ein anderes Opfer fand.
Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie, dass sie nicht das letzte Mal von ihm gehört hatte. Die Folter würde weitergehen.
Jedes Mal, wenn es klingelte, fürchtete sie das Schlimmste.
Sie hasste ihn inzwischen, hasste ihn wegen dieser kriecherischen Schleimerei, wegen seiner Feigheit, sich hinter der Anonymität zu verstecken, hasste ihn, weil er sie dieser nervenzehrenden Folter aussetzte.
Eine unbekannte Stimme am Telefon: ebenso primitiv und verabscheuungswürdig wie ein Schmähbrief von jemandem, der sich nicht traute, mit seinem Namen zu dem Inhalt zu stehen.
Es war ein außergewöhnlich anstrengender Arbeitstag gewesen, und sie fühlte sich ausgelaugt, als sie sich mit der Tageszeitung auf dem Sessel niederließ und darauf wartete, dass das Teewasser kochen würde. Sie blätterte im Fernsehprogramm. Freitags gab es meistens ganz gute Unterhaltung. Sie würde sicher etwas finden, was ihr gefiel, etwas Leichtes für zwei, drei Stunden.
Und dann – ins Bett.
Sie machte sich ein Butterbrot, goss Wasser in einen großen Becher, legte einen Beutel Zitronentee hinein und las das Bladet, die einzige Zeitung, die sie abonniert hatte. Morgens überflog sie die Zeitung meistens nur, um sie abends dann gründlicher durchzulesen.
Das Telefon klingelte, als sie gerade die Familienseite las, und ließ sie zusammenzucken.
Jedes Mal, wenn es klingelte ...
Zuerst wollte sie einfach gar nicht rangehen.
Aber dann stand sie doch zögernd auf. Schließlich konnte es ihre Mutter sein. Oder die übersprudelnde Anna, die immer zum Plaudern aufgelegt war, besonders abends und ganz besonders am Freitag.
Sie musste sich entscheiden: Entweder sie ignorierte das Telefon ganz und gar, oder sie gab sich einen Ruck und ging dran.
Die Idee mit der Geheimnummer kam ihr wieder in den Sinn, wie schon so oft zuvor, gleichzeitig schallte das dritte Klingelzeichen durch das Haus.
Sie holte tief Luft, atmete aus und nahm den Hörer im Stehen ab.
»Ja?«, fragte sie bebend, auf alles gefasst.
»Spreche ich mit Dolly Nilsson?«
»Ja«, bestätigte sie.
Sie hatte die Stimme nicht wieder erkannt. Die Erleichterung ließ sie fast laut kichern.
Das war nicht er.
Der Anrufer hatte einen leicht singenden finnlandschwedischen Akzent. Er stellte sich mit einem Namen vor, den sie bereits nach Sekunden wieder vergessen hatte, wenn sie ihn überhaupt registriert hatte.
Sie hörte kaum zu, was er sagte.
Stattdessen dachte sie: Er ist es nicht. Wie schön.
Sie zwang sich, interessiert zuzuhören, verlor aber schnell die Konzentration. Teilnahmslos lauschte sie seinen Worten über die Beschaffung von Mitteln für krebskranke Kinder; wenn er ihr also ein Überweisungsformular schicken dürfe, dann werde sie dafür ca. zehn Ansichtskarten bekommen, mit Motiven von ...
»Tut mir Leid«, unterbrach sie seine Litanei. »Ich habe in letzter Zeit schon genug gespendet. Gerade letzte Woche habe ich erst einen Betrag für die Förderung Schwerhöriger gestiftet, oder was das war. Und im Januar habe ich dem Verein ›Rettet die Kinder‹ etwas gegeben. Irgendwann muss man auch mal nein sagen können.«
»Aber es geht doch um ...«
»Ich weiß«, sagte sie. »Natürlich sind solche Aktionen sehr lobenswert, keine Frage. Aber wie gesagt, im Augenblick nicht. Vielleicht nächstes Mal.«
»Könnte ich dann nicht trotzdem ein Überweisungsformular schicken? Falls Sie es sich noch anders überlegen?«
»Ja, das können Sie«, sagte sie, um ihn endlich loszuwerden. »Aber ich verspreche nichts.«
»Das ist schon ganz in Ordnung«, versicherte er ihr. »Dürfte ich dann um Ihre Adresse bitten?«
Sie gab sie ihm und verabschiedete sich. Gerade als sie schon den Hörer auflegen wollte, fing er noch einmal an.
»Ach, da ist nur noch eins.«
»Was ist denn nun noch?«, fragte sie ungeduldig.
»Ich möchte nur wissen, ob deine kleine Fotze wohl nackt ist?«
Eine vollkommen andere Stimme jetzt, eine Stimme, die sie wieder erkannte. Nur zu gut.
»Oder hast du Spitzenhöschen an?«
Kein singendes Finnlandschwedisch mehr, sondern der übliche, grobe, unangenehme Dialekt.
Das war er, unverkennbar, das Schwein hatte es geschafft, sie zu überrumpeln.
Sie sah, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen sträubten.
»Wir wollen uns da unten doch nicht erkälten, das wollen wir doch auf keinen Fall, oder? Denn dann macht es nicht so viel Spaß, wenn wir uns treffen, keinem von uns beiden. Es ist doch wirklich so, dass wir unglaublich gut zusammenpassen, meine ...«
Sie warf den Hörer auf, aber nicht schnell genug: Sie konnte noch sein Keuchen hören, so abstoßend, so erschreckend.
Ihr Herz pochte heftig. Sie hatte eine ganz trockene Kehle.
Sie saß da und schaute sich mehrere Minuten lang im Zimmer um, versuchte sich zu beruhigen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihren Puls wieder unter Kontrolle hatte.
So ein Schweinehund!
Sie ekelte sich, fühlte sich gekränkt, ausgeliefert, nackt.
Ihr war, als hätten sich seine kranken geilen Augen im Hörer befunden und direkt durch ihre Kleidung hindurchgesehen, große Löcher hineingebrannt, nur um zu ihr vorzudringen.
Seine Dreistigkeit wuchs in beunruhigender Weise. Sich einfach als jemand auszugeben, der für krebskranke Kinder sammelte, sie in Sicherheit zu wiegen, wie herzlos. Das war irgendwie noch schlimmer als die bisherigen Anrufe, bei denen er mit seinem Stöhnen und seinen vulgären Andeutungen direkt zur Sache kam.
Sie sah ein, dass sie es nicht nur mit einer seelisch abnormen Person zu tun hatte, sondern mit jemandem, der vor nichts zurückschreckte.
Was würde er nächstes Mal machen?
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