Ein heftiger Wunsch nach einer heißen Dusche, nach Reinigung, überfiel sie. Es war wichtig, dieses klebrige Gefühl von Unbehagen wegzuspülen.
Es klingelte wieder.
Ihr Herz reagierte sofort mit einem heftigen Klopfen. Sie hatte das Gefühl, als dröhne es in ihrem Brustkorb und als übertöne das Pochen das scharfe Schrillen des Telefons.
Dolly blieb noch lange, nachdem wieder Stille im Haus eingekehrt war, in der gleichen Stellung sitzen.
Dann stand sie zögernd auf, drehte mehrere Runden im Zimmer und entschloss sich endlich.
Sie würde zwei Telefongespräche führen, sosehr es ihr auch widerstrebte.
Zuerst mit der Polizei. Dann mit Anna.
So konnte es nicht weitergehen. Sie musste einen Teil der Last abgeben, dieses eklige Wissen mit jemandem teilen. Der Terror musste ein Ende haben.
Sie rief bei der Polizei an und erklärte der Vermittlung mit wenigen Worten, worum es ging. Dann wurde sie mit jemandem verbunden, der Terje Andersson hieß und der geduldig ihrem etwas wirren Bericht von all dem zuhörte, was ihr in den letzten Tagen zugestoßen war.
»Sie werden doch etwas dagegen tun?«, fragte sie. »Es zumindest versuchen?«
»Wir haben von Ihnen eine Anzeige bekommen«, lautete die ausweichende Antwort.
»Ja, und?«
»Wir werden uns das anschauen.«
»Was bedeutet das? Was werden Sie sich anschauen?«
Dolly meinte ein leises Seufzen zu vernehmen, aber vielleicht irrte sie sich da auch.
Nach einigen Sekunden sagte Andersson: »Wir werden tun, was wir können. Bitte glauben Sie mir, dass ich großes Verständnis für Sie habe und mir vorstellen kann, wie Sie sich fühlen, nach all dem, was passiert ist. Das ist wirklich grässlich. Aber lassen Sie mich Ihnen eines sagen: Sie sind nicht die Einzige, die solchen üblen Scherzen ausgesetzt ist. Wir haben in den letzten Monaten mehrere ähnliche Anzeigen hereinbekommen. Einige andere Frauen haben sich aufgrund anonymer Telefongespräche der Art, wie Sie sie beschrieben haben, bei uns gemeldet.«
Aha, dachte Dolly. Dann bin ich also nicht allein.
Sie konnte sich nicht entscheiden, ob das nun ein Trost war oder nicht. Früher hatte sie immer gedacht, es sei ein Vorteil, wenn ein Wahnsinniger gleich mehrere Frauen angriff. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher.
Andersson fuhr fort: »Lassen Sie den Kopf nicht hängen! Denken Sie daran, dass diese Männer, die bei Frauen anrufen und sie belästigen, fast nie physischen Kontakt zu ihren Opfern aufhehmen. Dazu sind sie viel zu feige.« Fast nie.
Die Worte des Polizisten hallten noch in ihr wider, als sie sich unter die Dusche stellte. Sie musste sich erst einmal reinigen, bevor sie es schaffen würde, Anna anzurufen.
Sie stand fast eine Viertelstunde unter dem heißen Strahl, aber es nützte nichts.
Als sie sich abtrocknete, fühlte sie sich schäbiger als je zuvor.
Der Wind fühlte sich winterlich beißend, aber auch frühlingshaft und voller Verheißungen an, beides zugleich. Ihm schien, dass es milder geworden war – er verabscheute die Kälte –, auf jeden Fall biss der schneidende Wind nicht mehr so scharf wie noch vor ein paar Tagen.
Der dunkelblaue Mantel war ganz zugeknöpft, bis zum Hals hinauf. Und dennoch gelang es dem Wind, einen eisigen Finger darunter zu schieben, der ihn zu einem leichten Schaudern brachte. Der dünne Seidenschal bot keinen nennenswerten Schutz, verlieh ihm aber, wie zumindest er selbst fand, einen eleganten Touch. Und diesen gewissen Pfiff, der heute wichtiger für ihn war als je zuvor.
Er beschleunigte seine Schritte.
In die Manteltaschen hatte er zwei zusammengefaltete Abendzeitungen mit Reklamebeilagen gestopft, die er gerade am Hauptbahnhof gekauft hatte.
Er war auf dem Heimweg und bereute langsam, nicht den Wagen genommen zu haben. Aber er saß aus dienstlichen Gründen so oft hinterm Steuer, dass er gern die Gelegenheit zu einem Spaziergang nutzte, sobald sie sich bot. Das war auch das Einzige, was irgendeiner Art von sportlicher Betätigung nahe kam. Er war nie ein großer Freund körperlicher Anstrengungen gewesen, war sich aber im Klaren darüber, dass er ein Alter erreicht hatte, in dem es empfehlenswert war, sich fit zu halten.
Als er den Stortorget überquerte, bemerkte er, dass das Mittagsgeschäft bereits abgeebbt hatte. Die Stadt genoss einige Stunden wohlverdienter Nachmittagsruhe vor dem Trubel des Samstagabends.
Eigentlich war er nicht besonders begeistert von seinem jetzigen Wohnort. Nicht, dass er ihn nicht leiden konnte. So schlimm war es nun auch nicht. Die Stadt hatte einen gewissen Charme, der wohl in allererster Linie auf den Stadtteil zutraf, durch den er gerade ging: Gamleby, mit einem Gewimmel pittoresker Häuser in den malerischen Gassen und den gepflegten Grünanlagen.
Auch die Lage der Stadt war von Vorteil. Besonders schätzte er die Nähe zum Meer und die salzigen Bäder, die seine Sommer vergoldeten. So einen Luxus war er aus früheren Zeiten nicht gewohnt, als diese Freuden für Charterreisen in den Süden reserviert waren.
Und dennoch. Es war nicht wie daheim in Örebro, wo er geboren und aufgewachsen war und bis vor fünfzehn Jahren gelebt und gearbeitet hatte. Die Stadt war schon okay, aber trotz allem eine Spur zu klein, um ihm uneingeschränkt zuzusagen. Außerdem waren die Winter hier eindeutig kälter und windiger als in seiner Heimat.
Während er mit zielgerichteten Schritten durch die spätwinterlichen Straßen schritt, entsprach seine Erscheinung genau dem, was er war: ein wohlerzogener, erfolgreicher Vierziger mit einem ordentlichen Beruf.
Er wohnte mit seiner Frau Elisabeth in einer großzügigen Wohnung in einem alten Patrizierhaus in der Nähe des Krankenhauses, in bequemem Spazierabstand zum Zentrum.
Sie lebten jetzt zu zweit, nachdem beide Söhne ausgezogen waren. Die beiden waren schon zum Zeitpunkt des Umzugs von Örebro hierher fast flügge gewesen und hatten nur wenige Jahre in dem neuen Heim gelebt, in das sie nur unter brummenden, aber nicht besonders energischen Protesten umgezogen waren.
Anschließend hatten sie sich nach dem Studium in Göteborg beziehungsweise Lund jeweils eine respektable Arbeit beschafft, und obendrein war es beiden gelungen, eine Familie zu gründen.
Also Ruhe und Frieden an dieser Front.
Er öffnete die Wohnungstür, zog die Abendzeitungen aus den Taschen und legte sie auf den Flurtisch. Ein Prospekt fiel zu Boden. Er bückte sich, um ihn aufzuheben.
»Bist du’s, Hadar?«, war aus einem Zimmer rechts vom Eingang zu hören.
»Wer soll es denn sonst sein?«
»Ach, ich wollte es nur wissen.«
Nachdem er seinen Mantel auf einen Holzbügel gehängt hatte (er traute diesen umständlichen Metallkonstruktionen nicht), verzog er sich in die Küche und goss sich ein großes Glas fettarme Milch ein. Er trank es in einem Zug aus und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um eventuelle Spuren des Getränks wegzuwischen, die seine Mutter immer scherzhaft als Schnurrhaare bezeichnet hatte.
Er rauchte eine Zigarette, blätterte eine der Zeitungen flüchtig durch und ging dann ins Zimmer seiner Frau.
Wie lange war es schon her, dass sie ein gemeinsames Schlafzimmer gehabt hatten?
Sie saß vor dem Spiegel an ihrem Frisiertisch und konzentrierte sich voll und ganz darauf, ihre Lippen anzumalen. Schminkutensilien in Hülle und Fülle stapelten sich auf der Tischplatte. Er kannte niemanden, der sich mit Elisabeth messen konnte, was die Anzahl überflüssiger Accessoires betraf.
Ihr Haar war voller Lockenwickler, deren Ränder sich unter einem locker umgeschlungenen Handtuch abzeichneten, das den größten Teil ihres Kopfes bedeckte. Ihr Morgenrock war nicht zugeknöpft, er hing nachlässig um ihren drallen Körper. Er konnte ihren beigefarbenen, gut gefüllten BH sehen und ein großes Stück eines ihrer weißen, strumpflosen Beine. Das andere wurde fast zur Gänze von dem Morgenrock verdeckt. Durch die Fensterscheibe fiel das Tageslicht herein und ließ den Ohrring in ihrem linken Ohrläppchen funkeln. Er erinnerte sich daran, dass er früher daran geknabbert hatte. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr an den Geschmack erinnern.
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