»Wo ist Marvin, Mama?«)
Rosanna sagt Gute Nacht, und wir gehen durch das Haus und betrachten unsere neu erworbenen Sachen. Herman nickt zufrieden und abwesend zu allem. Er will das Haus über Wasser halten, will jedoch nicht selbst mitrudern. Er betrachtet uns ein wenig von der Seite, amüsiert und mit dem stets gepackten Koffer in der Diele. Immer steht die Arbeit an erster Stelle. Wir leben mit einem der größten Dirigenten unserer Zeit (ja, all die Agenten und Presseleute lassen es mich nicht vergessen), und der Preis, den wir bezahlen müssen, ist dieser Koffer. Sowie das mangelnde Interesse. Sowie ... Nicht immer ist es so gewesen; es fällt schwer, sich an etwas anderes zu erinnern.
Wir legen uns ins Bett, Seite an Seite. Herman ist diesmal nicht auf dem Weg irgendwohin, das Konzert wurde abgesagt, und er hat eine unerwartete Spielunterbrechung. Ich habe Lust, ihm nahezukommen, will zuhören, will, daß er mir zuhört, möchte wieder Geheimnisse teilen – dieses Verlangen loswerden, das mich zu Boden zu drücken scheint. Meine Hand in seiner, ich presse sie fest und sage: »Irgendwas stimmt nicht, Herman.«
»Wann stimmt schon alles?« erwidert er gähnend.
»In deinen Konzerten.«
»Ja, aber da haben wir Noten, denen wir folgen können. Was haben wir im Leben?«
»Mich«, versuche ich. »Du hast mich.«
Ein Murmeln, flüchtiges Streicheln über meine Wange.
»Irgendwas läuft falsch«, beharre ich. »Etwas ist aus dem Gleichgewicht. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Hilf mir.«
Jetzt seufzt er, klemmt sich ein weiteres Kissen unter den Kopf, reibt sich die Augen.
»Fühlst du dich alt, Herman?«
»Wir müssen alle sterben, meine Liebe.«
»Ja, aber beunruhigt dich das?«
Ich berühre ganz vorsichtig seine nackte Hüfte. Er zuckt zusammen.
»Ist es hier nicht mächtig kalt?«
Er steht auf und sucht nach einem Pyjama. Sein graues Haar leuchtet im Mondlicht, und er stellt sich ans Fenster und blickt auf das Meer.
»Ich bin doch hier.«
Nach kurzem Zögern legt er sich wieder ins Bett. Hält meine Hand keusch auf der Bettdecke fest.
»Sicher bist du das, natürlich ist es so«, murmelt er.
Schweigen, aber keine Küsse.
»Was willst du, Herman? Mit mir, mit uns und den Kindern?«
»Will?« fragt er verwundert. »Was soll ich wollen. Wir haben doch alles.«
»Alles?«
»Also Molly, du kannst so halsstarrig sein. Alles, was ich habe, ist hier.«
»Marvin ist es nicht.«
»Aber das haben wir doch gelöst, so gut wir vermochten. Zum Besten aller. Jetzt nicht noch mehr davon.«
»Aber wann, wenn nicht jetzt?«
»Ich bin müde. Alle diese Orchester, die auf Interpretationen warten, auf etwas Bahnbrechendes. Versuche doch mal zu verstehen. Manchmal raubt mir das jede Energie. Was wäre, wenn ich nicht mehr zu bieten hätte?«
»Dann sage doch nein.«
»Nein? Das kann ich nicht.«
Das habe ich schon früher gehört. Ein überraschend lauter Seufzer von meiner Seite, weshalb ich sofort das Thema wechsle.
»Die Geschichte über uns, Herman«, sage ich und lächle ihn zärtlich an. »Irgendwo habe ich gelesen, daß jede Ehe eine gemeinsame Geschichte hat. Wie man sich kennenlernte und weshalb, die Entscheidungen, die man danach getroffen hat. Wie lautet unsere Geschichte, was meinst du?«
Meine tastenden Finger unter seiner Pyjamajacke. Sie wollen sagen, laß mich mit meinen Träumen nicht allein. Schreib mir, träume wieder von mir, prophezeie mir die Zukunft, verzehre dich – was auch immer. Die Finger gleiten um seinen Nabel, er rührt sich nicht. Langes Schweigen.
»Ich habe Angst«, höre ich mich sagen und liege schwer auf dem Kissen. »Dieses Gefühl, daß nichts stimmt, daß mein Körper etwas ist, in dem ich nicht zu Hause bin. Das Ende. An so etwas denke ich. Wie ich dem entgegenfalle. Alle wissen wir es schließlich, aber wie kann man es mit Würde handhaben?«
Er setzt sich auf, ich rutsche von seinem Arm. Er steht erneut auf.
»Ich will das Bett nicht mit dem Tod teilen.«
»Mit dem Tod?«
»Als Gesprächsthema. Ich ertrage das nicht, Molly.«
»Dann laß uns über etwas anderes reden.«
Aber er hat schon sein Kissen genommen und ist gegangen, um sich im Gästezimmer schlafen zu legen, die Tür fällt hinter ihm ins Schloß. Früher einmal war mein Körper etwas, von dem er sich nicht zu trennen vermochte. Er war der Ort seines Verlangens. Damals lagen wir dicht aneinandergeschmiegt, und keiner von uns wollte hinausfinden. Wir waren eins und konnten uns nicht vorstellen, anders zu leben. Damals war ich kein kleines einsames Mädchen im Körper einer erwachsenen Frau. Wie bin ich hier gelandet?
Das erste Mal, als ich Herman sah: Vital, gut aussehend, mit Charisma, irgendwo weit weg eine Frau – eine vage Erinnerung an einen blassen Schatten, der kein Wort sprach, offenbar sind wir uns wohl doch begegnet – und keine Kinder. Mein Herman! Ich wußte es sofort, sein Lächeln, das zu etwas einlud . Er lud zu einem anderen Leben ein, und die er einlud, war ganz eindeutig ich (O, die Auserwählte zu sein!), und wer war ich schon, um das abzuschlagen? Es war, als stünde man im Licht, würde gesehen und, aufs neue, getragen und erhoben. Die Hand um meinen Nakken, dort hatte es begonnen. Ich wollte etwas fragen, er blieb nach der Probe da und beugte sich zusammen mit mir über die Noten – ungewöhnlich, natürlich war ich mir dessen bewußt – und statt die Lehne des Stuhls zu umfassen, legte er seine Hand um meinen Nacken. Wir wußten es bereits in diesem Augenblick. Der Nacken der Geisha. Dieser ungeschminkte Teil voller Blässe, das Sinnbild der Lust.
Er streckte die Arme in die Höhe und erhob seinen Taktstock. Ich gehorchte ihm, damals wie heute. Er bestimmte den Takt, und ich spielte. Er liebkoste, und ich ließ mich liebkosen. Er liebte, und ich ließ mich lieben. Er küßte, und ich ließ mich küssen. Zuweilen aber war es ein merkwürdiges Gefühl, es schien, als wollte er meinen Mund mit seinen Küssen verschließen. Wenn ich ihm widersprach, beugte er sich stets vor und küßte mich. Ich versuchte erneut zu reden, und er legte mir den Finger auf die Lippen. Es lag etwas Erregendes darin, wie er mich lenkte. Der Anblick seiner Hände, die wenigen Male, die er mich dirigierte. Kraft und Entschlossenheit: Geh mit, ich bin es, der für Ablauf und Interpretation einsteht. Halte nun inne, spiele jetzt, lege deine Hand hierhin, nein dorthin , erhebe den Bogen, atme mit mir, beuge den Rücken. Ich ging willig mit, ich war jung: Führe mich, trage mich, zieh mich aus, halte mich, lösch das Licht, küß mich, bis meine Gedanken verstummen.
Aber die Gedanken verstummten nicht. Mein Mund öffnete sich auch weiterhin, um etwas anzumerken, und am Ende war er es müde, mich mit Küssen zum Schweigen zu bringen. Am Ende hatte ich genug eingekauft, jedenfalls für eine Zeitlang, und dann stand ich da. Und er packte, stellte den Koffer neben die Tür. Unsere Kinder allein um meine Füße. Allein in einem ach so dekorierten Zuhause. Küsse anstelle von Worten, damit kann man doch wohl leben?
Wir hatten schließlich unsere Abmachung. So nannte er es. Er hielt das Haus finanziell über Wasser und ich in Bezug auf die Gefühle. Er brachte Geld ins Nest – mein Gehalt war lächerlich gering, oder etwa nicht? –, während ich garnierte und verzierte, den Vogeljungen Futter ins Mäulchen stopfte und ihre Münder mit Süßkram, durch Bestechung und Schelte zum Schweigen brachte. Mama ist jetzt ein bißchen müde? Ziemlich oft war Mama ein bißchen zu müde, doch schließlich gab es die Abmachung. Und wir konnten ja die Plätze tauschen, wenn ich wollte. Einmal wollte ich es, ich bat Herman, Vaterschaftsurlaub zu nehmen, damit ich mich als freie Kammermusikerin erproben konnte, bevor ich meine feste Anstellung in der Konzerthalle wieder antrat.
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