Barbara Voors
Die Liebhaberin
Roman
Aus dem Schwedischen
von Gisela Kosubek
Saga
Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.
Aus Mozarts Requiem
Früher einmal habe ich eine Familie besessen. Sie zerbrach genau wie ich. Daß ich unsere privateste Angelegenheit an die Öffentlichkeit brachte, das werden mir meine Kinder nie verzeihen. Wenn man seine Schlafzimmertür erst einmal geöffnet hat, läßt sie sich nie mehr schließen. Aber ich wußte nichts vom Leben, weiß nichts davon. Das einzige, was ich weiß, ist, daß ein Verbrechen begangen worden ist und daß diejenige, die es inszeniert hat – wenn auch unbewußt –, ich selber bin. Niemand wurde getötet, nein, das nicht, und dennoch sind wir alle auf die eine oder andere Weise vernichtet. Zwei Kinder, ein Ehemann, dessen Frau – das war ich – und ein Bekanntenkreis, der vor Entsetzen wie gelähmt war.
Scheidung, das ist lediglich ein Wort. Dessen Abgründe, ich kannte sie nicht. Kannte nicht den Haß, die Eifersucht, Bitterkeit, Demütigung, die Unversöhnlichkeit und Wut. Ich war wie ein feuerspeiender Drache. Meine Kinder, sie hatten Angst vor mir. Ich selbst hatte Angst vor mir. Es gibt eine Grenze; aber ich konnte nicht aufhören. Deshalb bin ich mehr als mitschuldig. Kann man es Wahnsinn nennen? Mehr als das – ich war vergiftet.
Am Anfang war alles einfach. Das ist die Wahrheit anscheinend immer. Schwierigkeiten zeigen sich erst später. Wir verurteilen so ausdauernd, wie wir können, unterschiedslos. Er hat mich wegen einer anderen verlassen, obendrein war sie die Babysitterin der Familie. Arme Molly, ich Arme. Diese Schlafzimmertür, die geöffnet werden mußte. Ich stand dort und sah es. Wenn ich gewußt hätte, wie oft mich dieser Anblick nachts verfolgen würde, hätte ich die Augen zugemacht. Mein Mann zwischen den Beinen einer Vierundzwanzigjährigen. Mein erster Gedanke, wirklich sonderbar: Aber wo ist die saubere Bettwäsche? Er hätte daran denken müssen, saubere Wäsche für hinterher herauszulegen. Ich, wenn überhaupt jemand, beherrsche solche Details. Danach Eiseskälte in mir, schließlich begann ich zu zittern. Mußte mich an Türen und Fenstern festhalten, als ich schreiend kehrtmachte; nur weg.
Wer hätte in dieser Situation nicht die Sympathien auf seiner Seite? Mehr als das, ich riß sie an mich. Aber ich ging zu weit. Eine kurze Schilderung des Geschehens dem Programmheft beizufügen – an diesem Abend sollten wir Strawinskys Frühlingsopfer geben –, das ging wirklich zu weit. Das Allerprivateste war nicht länger privat. Aber was soll eine mit Blindheit geschlagene Frau tun? Das hier passierte schließlich ein paar Wochen vor unserem fünfzehnten Hochzeitstag, der zugleich mein vierzigster Geburtstag war, und wir wollten beides mit einem rauschenden Fest begehen. Außerdem lag ein neues Millennium vor uns, das Fest des Jahrhunderts sollte Silvester 1999 stattfinden.
Also schrieb ich den Brief. Ein paar von unseren Freunden saßen im Publikum oder spielten im Orchester, es war schließlich das beste, wenn sie sofort von der Absage des Festes erfuhren. Der Abend war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen mein Mann Herman als Gastdirigent in der Konzerthalle auftrat, wo ich selbst Cellistin bin – wieder einmal ein triumphierender Besuch des gefeierten Künstlers in seinem Heimatland. Er hätte mich dirigieren sollen, doch der Frühling lag lange zurück, und das Opfer war selbstverständlich ich. Alles um mich war grellweiß, nein, schwarz. Ich sah alle Farben des Lebens, und keine einzige war sanft und licht.
Die Mädchen in der Garderobe und die Platzanweiser schienen verwundert, als ich in den großen Saal hinunterkam, überall nur weißer Marmor und barbusige Frauen in erstarrter Pose. Es hallte unter meinen Absätzen und dem weiten schwarzen Rock, den ich beim Spielen immer trage (ich mußte die Beine wegen des Cellos spreizen können).
»Natürlich sind Programmbeilagen von oben zugelassen! Legt sie jetzt ein, und schaut mich nicht so an!« Das Publikum strömte bereits herein, und aus diesem Grund und auch wegen meinem leicht irren Blick gehorchten sie. Einer von ihnen hatte offenbar die Zeilen überflogen und fing an, die Briefe wieder herauszuholen, obwohl es bereits zu spät war. Der Skandal – ein banales Wort, aber so sagt man doch wohl? – war bereits eine Tatsache. Meine Wangen glühten vor Entzücken. Ich verspürte nur noch blinde Wut und den heißen Drang nach Rache. Was in meinem Brief, der dem Programmheft beigelegt worden war, gestanden hat?
10. Dezember 1999
Was tut man, wenn man einen der berühmtesten Dirigenten der Welt mit der Babysitterin im Bett findet? Man sieht das Banale der Geschichte, natürlich. Man lacht. Auch ich tat das, aber das Lachen blieb mir im Hals stecken, scheuerte und wollte heraus –, und ich mußte mich übergeben. Der Dirigent Herman Swartling ist mein Mann, die Frau war meine Freundin und die Vertraute unserer Kinder. Das Fest anläßlich unseres Hochzeitstages und der Jahrhundertwende? Abgesagt. Bleibt zu Hause. Das hätte ich auch tun sollen, aber leider war es genau dort, wo ich die beiden gefunden habe.
Hochachtungsvoll
Molly Swartling
Meiner Meinung nach war der Brief kurz und bündig. Was hätte man mehr sagen können? Außer der Wahrheit. Sicher hatte ich die Sympathien auf meiner Seite. Wer, wenn nicht ich? Aber mußten sämtliche Besucher der Konzerthalle – Kritiker eingeschlossen – erfahren, was passiert ist? Eine legitime Frage. Muß ich es noch einmal sagen? Lauter Farben um mich herum, nur keine sanften. Aber die Leute, sie waren wegen der Musik gekommen. Um sich aus der Wirklichkeit wegzuträumen, sich in jenes innige Gefühl zurückzuziehen, das die Musik in ihren besten Stunden vermittelt. Wegen der Musik waren sie gekommen. Wegen der Musik waren wir alle einmal gekommen, es ist so viele Jahre her, lange vor dieser Zeit der Totenmessen, die jetzt mein Leben ist. Ich, Molly, mein Mann Herman, die Sopranistin Kristin und ihr Mann Johannes Roberts, der später Trompeter im Orchester wurde, Emelie Werner (auch wenn sie in der Garderobe der Konzerthalle sitzt, die Kopfhörer zum Mithören aufgesetzt) und schließlich der Trompeter Olav Jensen (Friede sei mit ihm, nur haltet ihn mir vom Leib).
Ganz hinten auf der Bühne, hinter Notenständern und Instrumentenkästen, stehen unsere Kinder Marvin und Rosanna. Sie sind die tatsächlichen Opfer, wie sehr ich auch versuche, mich in den Vordergrund zu drängen. Das Motiv? Genuß, Leichtsinn und Naivität. Und das Verbrechen? Die Auflösung der Familie. Die Strafe? Ich glaube zu ahnen, daß sie gerade erst begonnen hat.
Dieses Tagebuch hier, das Rosanna mich zu führen bat, ist jetzt unentbehrlich. Zufall oder Absicht? Was weiß ich. Aber über den Wahnsinn, der dicht unter der Oberfläche lauert, weiß ich alles. Die Haut, nur eine millimeterdicke Schutzwand. Die Vergiftung kam ganz langsam, davon muß ich erzählen. Keiner würde mir glauben, ich selbst würde es nicht tun. Hört mir jetzt zu.
Erstes buch
»Der Blick auf die zugefrorene Bucht ist heute wundervoll. Schauen Sie, wie die warme Luft aus dem Gaswerk quillt, sie wirkt wie ein Qualmstreifen am klaren, blauen Himmel. Die Autos auf der anderen Seite des Eises, sehen Sie, wie langsam sie fahren? Die Glätte hat sie überrascht – obwohl der Winter doch ein stets wiederkehrendes Phänomen ist –, und die Menschen auf den Bürgersteigen bewegen sich äußerst konzentriert, die Blicke mal zu den Eiszapfen, dann wieder auf den rutschigen Gehweg gerichtet. Von hier aus hat man das Ganze im Überblick. Sehen Sie, wie sehr die Leute fürchten, die Eiszapfen könnten ihnen auf den Kopf fallen? Ich meine, wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit wohl?«
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