Ich gehe in die Diele hinunter, um die Post zu holen, im Augenblick einer der Höhepunkte des Tages. Wenn doch nur etwas passieren würde. Etwas, das mich packt und das durch einen glücklichen Umstand meinen Weg kreuzt. Irgend etwas, das ein Feuer entfacht, damit das verdorrte Gras abbrennt und Platz für Neues geschaffen wird. Etwas, das diese Rastlosigkeit beseitigt, die meine Beine kribbeln läßt, wenn ich sehe, wie Herman den Koffer für den nächsten Flug packt. ›Und ich‹, will ich dann schreien, ›kannst du mich nicht mit einpacken und irgendwo anders wieder auspacken? Bring mich weg von hier!‹ Ich schäme mich. Trockene Lippen auf den meinen, habe ich nun ›Machs gut‹ oder ›Willkommen zu Hause‹ gesagt?
»Rosanna, ich schreibe.«
»Ach ja,« sagt sie mit unbeteiligter Stimme, superdünn in schwarzen Jeans, dunkles, ständig hochgezwirbeltes Haar, es fällt herunter, muß wieder hoch.
»Mein Neujahrsversprechen?« zwitschere ich und hasse meine ausgelassene Stimme.
Sie schaut mich lange an.
»Mama, jetzt hast du auch dieses nervöse, typisch bürgerliche Lachen.«
Das war’s. Ich schlucke und schlüpfe in die Gummistiefel. ›Begegne deinem Teenager-Kind mit einer angemessenen Dosis Gleichgültigkeit.‹ Ich weiß. Aber was tut man bei denen, die man über alle Maßen liebt? Der Briefkasten ist leer, bis auf Werbung. Ich lege die Prospekte in die Diele, mache eine Runde durch die Villa, werfe einen Blick aufs Meer, dann wieder zurück zur Diele. Herman auf Dienstreise – ich glaube, es ging um Puccini in Rom, oder war es Wagner in Wien? Marvin an einem Ort, den ich nicht zu nennen vermag, Rosanna dort, wo sie jetzt immer ist: ›Nirgendwo‹.
Aber die Rastlosigkeit hat nicht nur mit Hermans Blick und mit der Erkenntnis zu tun, daß mein Körper nicht mehr derselbe ist, sondern auch mit dem Alptraum, der ständig wiederkehrt. Ich stehe in einem dunklen Raum, bin eine von vielen in einem großen Kreis von Menschen und halte die Hände zweier Fremder. Der Sinn der Sache ist, daß jemand fallen wird, doch keiner weiß, wer. Es ist still, wir atmen ein und aus. Die Frau an meiner Seite murmelt etwas von »einer Warnung«, aber ich verstehe nicht, was sie sagt: »Bin ich jetzt an der Reihe?« rufe ich in den dunklen Kreis, doch niemand antwortet. Und immer wieder: »Wird mich jemand auffangen?« Morgens wache ich auf mit zusammengepreßten Zähnen und irrem Blick. Das Unangenehme ist, daß der Traum mich an etwas erinnert, das früher einmal geschehen ist. Aber mein Gedächtnis ist verdammt schlecht, irgendwie verschwommen und voller Fehleinstellungen.
Als ich die Werbung gerade wegwerfen will, entdecke ich ganz unten ein kleines fotokopiertes Blatt. Es sieht selbstgemacht aus, als hätte ein frühreifes Kind eine Schatzkarte gemalt und diese dann auf Papas Kopierer gelegt. Am Rand befinden sich Menschen, gezeichnet mit wenigen Strichen, sie fliegen über einer Stadt, die der unseren gleicht. Naiv, aber wohl ein wenig zu detailliert, als daß sie von einem Kind stammen könnten. Ganz oben steht: »An alle Mitmenschen von Sjövik« und darunter »Supergeheim«. Ich lache auf, was zur Zeit selten geschieht. Darunter eine kleine Blume, und in jedem Blütenblatt steht ein winziges Wort, zusammen ergibt es einen Satz: »Kann nicht genug bekommen«.
Eine weitere, kleinere Überschrift: »Midlife-Crisis«. Ich winde mich.
Darunter eine Aufstellung:
Ursache: Langeweile und Naivität
Zustand: Fieber
Symptome: Sporttreiben, manische Angst vor dem Alter, Untreue sowie lähmende Todesangst
Zuunterst verläuft eine Girlande aus kleinen Herzen, und die Person hat versucht, sie am rechten Rand nach oben weiterzuzeichnen, doch kollidierten sie unterwegs mit den fliegenden Menschen. Das war alles.
Eine leichte Übelkeit überfällt mich, so, wie wenn man einen schockierenden Bescheid erhält. Dennoch nehme ich das Blatt mit ins Schlafzimmer, lege es auf den Nachttisch neben das Tagebuch und werfe hin und wieder einen Blick darauf. Jemand öffnet die Haustür. Ich forme mit den Lippen: Nirgendwohin. Dennoch kann ich nicht anders, als durch das Haus zu rufen – klingt meine Stimme nicht gebrochen –: »Wohin willst du, Rosanna?«
Das Merkwürdige daran, Vater oder Mutter zu sein? Daß man immer wieder Fragen stellt, obwohl man keine Antworten erwartet, die man nicht schon kennt.
Ich glaube zu wissen, wann die Rastlosigkeit ihren Anfang genommen hat. Es war damals, als Marvin noch zu Hause wohnte, wir brauchten uns nur zu sehen, da wackelten die Wände ganz von selbst, zugleich aber arbeiteten wir verzweifelt daran, eine Familie zu sein. Herman war ausnahmsweise einmal daheim, und die Vorstellung, daß wir an einem Wochentag alle vier um den Abendbrottisch versammelt wären, ließ mich förmlich alles tun, um es uns ... ja, richtig gemütlich zu machen. Ich deckte den Tisch, wirbelte durch die Zimmer, flambierte, trug auf und legte vor. Elegant geschichtete Speisen auf vier angewärmten Tellern. Vier Stunden Mühe für zwanzig Minuten Gleichgültigkeit. Ich weiß noch, daß ich Hermans Blick suchte: Hilf mir jetzt. Aber er schien in Gedanken an die Arbeit versunken, diese Falte zwischen den Augen, die anfangs so hinreißend wirkte, ist heute so tief, daß sie nie mehr verschwindet. Alle kauten vor sich hin, und sonst war nichts zu hören. Doch dann legte Rosanna das Besteck hin und stand auf.
Endlich, dachte ich, endlich jemand auf meiner Seite.
»Mama, ich halte dein Gekaue nicht mehr aus. Ich ertrage es einfach nicht!«
Dann fing sie an zu weinen und lief aus dem Zimmer. Marvin zuckte die Schultern: »Was sagt ihr doch immer? Teenies , ja verdammt«, fügte er hinzu, als ob das nötig wäre.
Die Haustür schlug zu. Das sorgfältig drapierte Essen gefror auf meinem Teller. Herman schien verwirrt – wie jemand, dessen Auto im Straßengraben gelandet war und der nicht wußte, wie das hatte passieren können und wie er sich nun um seine Mitfahrer kümmern sollte.
»Gibt es Dessert, Molly?« brachte er heraus.
Ja, die flambierte Frau, wollte ich antworten, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, ich kippte das Essen in den Mülleimer und ging.
Also Rosanna erträgt es nicht, mich kauen zu sehen. Auch eine Erkenntnis. Ich glaube sogar, sie erträgt mich überhaupt nicht mehr. Damals hatte es angefangen. Aber ja, ich weiß alles über die notwendige Loslösung von den Eltern und das Austesten von Grenzen, mir ist auch klar, daß man seine Kinder loslassen muß. Bei mir hat das aber das Gefühl ausgelöst, ich sei zwar zur Hälfte eine Mutter, die einfach alles aus vorbehaltloser Liebe tut, zur anderen Hälfte fühlte ich mich jedoch als Grenzwächter. Ich bin nicht dafür gemacht. Die Mängel einer Mutter – die sind irgendwie tabu. Die Abwesenheit des Vaters ebenso. Doch abwesende Eltern können sich den Luxus leisten, mit Unverständnis zu reagieren, wenn sie letztlich auftauchen.
An jenem Abend erschien Rosanna in unserem Schlafzimmer. Herman war wieder abgefahren, und sie stand zitternd in der Tür. Ich ging hin, wollte sie umarmen, doch merkwürdigerweise fiel ich auf die Knie, und sie wiegte meinen Kopf an ihrer Brust, während ich den Tränen freien Lauf ließ. Als hätten wir plötzlich die Rollen getauscht, ohne daß wir verstehen konnten, wie es dazu gekommen war. Nicht so, konnte ich gerade noch denken, vermochte jedoch nicht, damit aufzuhören.
Ich ziehe mich an, um zu den Proben zu fahren, die wir vor den zwei Konzerten dieser Woche haben. Normalerweise läuft die Sache folgendermaßen ab: Ungefähr vier Tage Probe (davor eigenes Üben), Generalprobe, vielleicht zwei Konzerte und dann ein paar Tage frei, bevor alles wieder von vorn beginnt. So ist es immer, und manchmal habe ich das Gefühl, daß sich alles unentwegt wiederholt. Nach fast zwanzig Jahren im Orchester ist das ja auch so. Dieses Programm mit diesem Gastdirigenten haben wir doch wohl schon gespielt? Moment mal, habe ich den Bogen gerade abgelegt oder muß ich ihn jetzt aufnehmen? Wie bei einer Ehe, die zum Totentanz geworden ist: Dieselben Sätze werden wieder und wieder gesagt, du bist müde, und ich bin sauer, die Kinder hängen herum, und das Wetter ist mies, du beleidigst, und ich weine ... Mein Gott, das haben wir doch alles schon gehabt ? Diese Worte gehen mir durch den Sinn, wenn Herman und ich ein weiteres Mal über dieselbe Sache streiten. Genau dieses unangenehme Gefühl habe ich heute auch bei meiner ehemals so geliebten Arbeit. Aber das haben wir doch schon gespielt ! Ich betrachte die neuen Musiker im Orchester mit derselben Aversion, die ich den Werbeplakaten entgegenbringe. Ich beneide sie um ihren Enthusiasmus und ihr Können. Aber ich sehe auch ihre Blicke, darin liegt kein Neid. Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht dasselbe Niveau halte wie früher.
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