Nach sechs Wochen konnte Tidemunt ohne Gefahr geröntgt werden. Sichtbare Veränderungen der Magen- und Darmwände waren nicht mehr auffindbar. Die Ausheilung vorhanden gewesener Geschwüre oder Zerfallstellen schien vollkommen. Er nahm diese Botschaft ohne Bewegung auf. Merklicher traf ihn die Weisung des Arztes, nunmehr den halben Tag außerhalb des Bettes zuzubringen. Doch ganz unbehaglich berührte ihn, für ein Jahr, besser jedoch für immer das Rauchen aufgeben zu sollen.
„Sie werden mir auch meinen Rotspon noch verbieten wollen, Professor“, knurrte er.
Der Arzt lächelte: „Ich ahne nicht, wie lange Sie noch leben wollen. Die nächste Flasche Rotspon könnte Sie unversehens an der Schattenschwelle, die Sie jetzt überschreiten, für immer zurückhalten. Sie sind fast so entgiftet wie ein Bergbauer im Hindukusch. Ein Glas Schnaps würde wie ein Uppercut hinhauen, eine Kanne Mokka Sie lähmen, ein Päckchen Lucky Strike Sie töten.“
„Haben Sie sonst noch Rezepte?“ fragte Tidemunt argwöhnisch.
„O ja!“ lachte der Arzt und begann, eine höchst delikate neuartige, doch nicht gänzlich fleischlose Speisenfolge zu entwickeln.
Tidemunt blickte aus dem Fenster. Die Sonne schien, von irgendwoher klang Musik; es klang wie eine Flöte. „Sie geraten ins Fanatische, Professor“, knurrte Tidemunt und lehnte sich horchend aus dem Fenster.
„Ganz recht“, nickte der Arzt, „ich bin dabei, den Ast abzusägen, auf dem mein Einkommen blüht.“
Tidemunt drehte sich um:
„Und was würde genügen, bis ich mir eine Köchin oder einen Gastwirt soweit dressiert habe, Professor?“
„Wenig genug, mein Lieber. Morgens Obst, Nüsse, Brot und Butter. Mittags Blattsalat, gedämpfte Gemüse, Kartoffeln mit der Schale. Abends Obst und saure Milch. Nie zuviel, und gut kauen!
Und ein gelegentlicher Fastentag. Über allem aber eine unerschütterliche Gelassenheit und ein regelmäßiger ‚Kabinettsgang‘. Damit können Sie neunzig Jahre alt werden, selbst wenn Sie dann und wann ein mageres Stück Fleisch hinzufügen oder gar, nicht so bald, einmal kräftiger sündigen. Trinken? Wie Sie es hier gewohnt waren oder auch nur einwandfreies Wasser und stets nur zwischen den Mahlzeiten. Und da Goethe schon die Suppen verachtete wie ebenso den Kaffee ...“
„Aber nicht den Wein, Professor.“
„Zu Zeiten doch ahnte ihm auch das. Ohne Karlsbad wäre ihm aber selbst der gute Rheinwein, den er im Alter bevorzugte, noch schlechter bekommen.“
„Und wie, Herr Professor, ist es mit ...?“
„Mit der Liebe? ... Oh, die Liebe geht zwar durch den Magen, aber sie wirkt nicht auf ihn zurück.“
Tidemunt blickte lächelnd in die Weite. „Was ist das für ein Gebirge?“ fragte er. Die Landschaft war ihm bislang kaum ins Bewußtsein gedrungen.
„Nichts über achtzehnhundert, Hochgern, Kampen, Wendelstein, aber dahinter Watzmann, Salzburgisches und Tirolisches, und steigen Sie hinauf, sehen Sie den Großglockner und Großvenediger.“
Tidemunt schien zu erwachen. „Es weht über Süd“, murmelte er. Er lauschte. Schrie ein Dampfer? Hohl, fern und unbedeutend? aber wirklich. „Ein Dampfer ...?“
Der Arzt nickte.
„Der See liegt keine halbe Stunde von hier. Es wird noch viel für Sie zu entdecken geben, Herr Oberbaurat.“
In Tidemunt brodelte Bild und Lärm des verlassenen nördlichen Hafens. Viel zu entdecken?
Er fand sich unversehens an einen Zeichentisch voll wirrer, mit Blaustift überkreuzter Pläne gerückt, und der Arzt schien gewandelt in einen gewissen, aus ferner Verblaßtheit deutlich werdenden, den grauen Spitzbart wie ein Zepter umklammernden schmächtigen und allmächtigen Stadtbaumeister, und dessen Stimme klang sanft, ironisch und überzeugend und füllte das Zimmer und schwang durchs Fenster in den Himmel: „Das Gewicht des Vergangenen wird leicht, wenn ein neuer Tag die Flügel regt.“
Tidemunt fröstelte es, als trete er in Morgenfrühe aus einem dunkeln Haus. Der Hafenlärm verscholl. Die Berghäupter sahen ernst zu ihm herüber. Ein Buchfink zwitscherte sanft. Oder wars ein verwehter dünner Flötenton?
Zögernd tat er seinen ersten Spaziergang ins Freie. Er versprach sich keine freundlichen Überraschungen davon. Doch die Luft wehte angenehm und ihm deuchte, sie röche nach Lorbeerholz. Man mochte solches auf der andern Seite des Gebirges für ein rasches Herdfeuer nehmen wie anderswo Knickhasel und Fichte. Und Bäume standen blond vor den blaugrauen Schroffen, und eine Wiese war da und spiegelte den milchigen Himmel.
Tidemunt ging an einer Hecke entlang mit der Empfindung, unterwärts aus Schilfrohr zu bestehen. Dann kam auf der andern Seite der Straße ein Tabakladen. Der Duft traf seine ausgeruhten Nerven, noch ehe er sah, woher er kam. Er wartete einen bedrohlich und brutal vorbeifahrenden Lastkraftwagen ab, der schlechter roch, querte den Weg und stellte sich vors Schaufenster. Seine Augen prüften die ausgestellten Zigarrenmarken. Es war nichts darunter von dem, was ihn früher gelockt hätte. Auch sah er sich wildbärtig in der Scheibe. So bleib nur! dachte er: Unkenntlich dir selber und andern, der du versagt hast mit allem, was du bist und kannst! ...
Mit bitterem Behagen wollte er diesen Sermon noch fortsetzen und im einzelnen belegen, wurde aber abgelenkt, da in der gleichen Scheibe gespiegelt, sozusagen hinter seinem Rücken, eine Gestalt auftauchte, die ihm bekannt schien. Ehe er sich aber schwerfällig umgedreht hatte, war sie schon auf der Straße vorüber und vom nächsten Vorgarten verdeckt. Dieser Mensch hat doch damals auf einer Art Flöte geblasen, dachte er, und eine sonderbare Erregung ergriff ihn. Und auf einmal wußte er, warum er den Nonnenschwestern im Hospital allen so forschend und enttäuscht ins Gesicht und auf die Figur geblickt hatte. Diesmal aber war der Flötenbläser ohne Begleitung gewesen. Tidemunt machte ein paar mühsame Schritte.
Da hinten ging der Mann, seemännisch gekleidet, und ein Schimmer roten Bartes wehte über die knochige Schulter. Aber nichts war von jener sanften Musik von damals zu hören. Von damals? Von wann und wo denn eigentlich? Und was für eine Musik war es gewesen, und was hatte die zarte Erscheinung neben diesem dürren Janmaaten doch noch gesungen ...?
Tidemunt stand grübelnd. Automatisch langte seine Hand ins Jackett, wo früher die Zigarren in derber Lederhülle aufbewahrt gewesen. Nun war dort nichts als die Brieftasche. Er wandte sich wieder dem Tabakladen zu, aber die Neigung, etwas Minderes zu versuchen, als er früher geraucht, verflog im Umwenden. Dann sah er, wie hinter der Ladenscheibe ein Plakat aufgehängt wurde; er erkannte das Wort „Konzert“ und fand sich nähergezogen. Er las die Einladung zur Besichtigung der Schloßbeleuchtung auf der Insel Herrenchiemsee ... Dreitausend Wachskerzen ... Kammermusik ... Er las den Satz: Es spielt das Münchner Quartett mit Berta Förl-Tidemunt als Gast ...
An dem fraglichen Samstag zögerte der Arzt, den Patienten für das Schloßkonzert zu beurlauben. Tidemunt aber erklärte ungeduldig: „Lieber Professor, Sie werden einsehen, ich habe die Bevormundung gründlich satt!“
„Das allerdings ist ein Zeichen von Gesundung!“ sagte der Arzt freundlich: „So wollen wir uns beiden denn wünschen, daß Sie allen Gefahren und Versuchungen, sie neu zu untergraben, standhalten.“
Tidemunt ließ sich ans Seeufer fahren, dahin, wo bei Gstadt die Aussicht überraschend ist. Er stand eine Weile und blickte unschlüssig auf die Wasserweite. Sie schien ihm unerträglich lieblich und pastellfarbig. Vor dem kräftigen Hintergrund des Gebirges lagen auf malachitgrüner seidiger Fläche drei von der Sonne schräg hinterleuchtete torfdunkle Inseln, eine große waldige, eine winzige bebuschte und eine, am nächsten gelegen, von mittlerer Größe mit Bäumen, Häusern und Zwiebelturm.
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