Hans Leip
Idothea
oder
Die ehrenwerte Täuschung
Komödie
Saga
„Gespeist mit einem gar armseligen Täubelein“
Aischylos, Proteus
Mit eben diesem armseligen Täubelein gespeist, dem — nach Wilamowitz — einzig erhaltenen Vers aus dem verschollenen Satyrspiel des ersten großen Tragikers der Griechen, von dem uns Droysen eine ebenso anmutige wie vermutliche Inhaltsskizzierung gibt, hat Hans Leip dem uralten und die Dichter aller Zeiten traurig oder heiter anrührenden Helena-Stoff eine neue Formung und Erhellung verliehen und damit zugleich für das gegenwärtige deutsche Drama in seiner heiteren Gattung ein neues Spielfeld belichtet. Welche Wirkung diese Neuerschließung und -belichtung haben wird, muß und wird sie aus sich selbst beweisen. Uns kommt nur zu, in einem Augenblick, da eine wahrhaft leidenschaftliche Auseinandersetzung um das Drama entbrannt ist, uns zu fragen, ob hier eine Flamme entzündet wurde, die uns leuchten kann auf dem dem deutschen Drama vorbestimmten Weg.
Fühlen wir doch alle, in welch absonderlichem Maße die Gegenwart zum großen Drama berufen ist, und können kaum begreifen, daß uns Deutschen das 20. Jahrhundert noch keinen dramatischen Dichter geschenkt hat, ebenbürtig denen der beiden vorangegangenen Jahrhunderte. Nicht zuletzt aus der Ungeduld nach dem viel gerufenen großen Dramatiker unseres Zeitalters ist denn auch der Streit um das neue Drama hervorgebrochen, das in Curt Langenbeck seinen bewußtesten und zugleich unerbittlichsten Künder und Fahnenträger gefunden hat. Und daß ein fernab von aller theoretisch-programmatischen Erwägung, rein aus der Freude am Gestalten schaffender Dichter wie Hans Leip mit seiner „Idothea“ ein Werk vollendet hat, das schon durch den mythischen Stoff und nicht weniger durch die sehr gegenwärtige Vereinigung antiker und shakespearischer Elemente gleichsam auf diese Auseinandersetzung hin geschrieben erscheint, so wenig dies in Wirklichkeit der Fall ist, macht gerade bei aller Andersartigkeit der dichterischen Herkunft brennend klar, wie unausweichlich die Besinnung und Bemühung um das Drama geworden ist, gleich ob es sich um die Tragödie oder die Komödie handelt.
Die Komödie! Wann immer man sich, mit Aristoteles beginnend, bis zu Lessing, Schiller und Goethe, Hebbel, Schopenhauer und Nietzsche und darüber hinaus nachdenkend und nachdeutend mit dem Drama befaßt hat, immer blieb die Komödie zugunsten der Tragödie als zweitrangig links liegen, gleich als sei es des Menschen würdiger, ernst zu sein als heiter. Und doch hat schon Sokrates an jenem heraufdämmernden Morgen nach der eroserfüllten Nacht des Platonischen Symposions den Tragödiendichter Agathon und den Komödiendichter Aristophanes gezwungen, zuzustimmen, es sei ein und desselben Dichters Sache Tragödien und Komödien zu schreiben, und hat damit ihre schicksalhafte Brüderschaft ausgesprochen, kurz nachdem das junge zu sich selbst erwachte Europa die beiden Dichtungsformen geschaffen hatte. Und doch sind beide, die Tragödie und die Komödie, aus derselben Erde und Saat erwachsen, aus dem gewaltigen epischen Werke Homers, der frühsten Selbstbezeugung der Antike, jener ersten und ursprünglichen und in vollgültigen Zeugnissen erhaltenen Daseinsform nordisch europäischen Geistes, zu der es in Zeiten tiefer Erschütterung und notwendiger Besinnung den europäischen Menschen immer wieder mit gleicher Sehnsucht und Inbrunst zurückdrängt wie den Erwachsenen zu seiner Kindheit, in der das, was er später tut, erfährt und erleidet, geheimnisvoll vorgebildet erscheint.
In der antiken Frühe sieht sich der Mensch auf sich selbst gestellt und zugleich abhängig von scheinbar willkürlichen Göttern, verflochten in die unüberschaubaren Irrgänge und unheimlichen Gesetzlichkeiten eines übermächtigen Weltgefüges, einsam und an untergründige Gewalten ausgeliefert, die, so muß er glauben, zu unbegreiflichem Ergötzen ihr Spiel mit ihm treiben, sieht Blut, Leid, Haß, Gewalt und Vernichtung entbrennen, weil die Götter in eigensüchtiger Verfeindung die Menschen mißbrauchen und gegeneinandertreiben. Aus dem Gefühl solcher verlorener Schicksalsanheimgegebenheit bricht unter Schmerzen das Element des Tragischen auf, das niemals dort möglich ist, wo ein alliebender, allwissender und allmächtiger Gott weise und gütig die Geschicke der Menschen lenkt, väterlich vorsehend ihre Wege noch dort zum Besten führend, wo sie uns ungerecht und leidvoll erscheinen. Im Christentum gibt es keine Tragödie. Denn es macht das Wesen des Tragischen aus, daß das zum Besten Gewollte unversehens in der Hand des Menschen sich ins Verderben und Furchtbare verkehrt, daß er nach den Sternen greifend in den Abgrund stürzt und andere mit sich reißt in traumwandelnd unseliger Verblendung, unkundig der geheimsten Gesetze der Welt, denen keiner ungestraft zuwiderhandelt und die sich erst dann offenbaren, wenn sie nie wieder gut zu machend verletzt sind.
Aber es zeugt für die Kraft und wahrhaft heroische Größe des antiken Menschen, und wohl des europäischen Menschen überhaupt, daß er in solcher Schau seiner dem Verhängnis verhafteten Existenz nicht nur die Tragödie erschuf, die in den Schauern von Furcht und Mitleid durch die Einsicht in die gemeinsame menschliche Seinslage dennoch eine Lösung bewirkte, sondern auch zu seiner Errettung die Heiterkeit entdeckte, die die Griechen mit chaire, freue dich, einander zum Gruße zuwünschten, die schon, so sonderbar es scheinen mag, für Homer sprichwörtlich geworden ist, jene Heiterkeit, mit der Sokrates in so vollendeter Gelassenheit den Tod auf sich nahm und nach der zuletzt alle antiken Philosophenschulen auf ihre Weise fahndeten, jene Heiterkeit, die sich in immer wechselnden Formen und Möglichkeiten, Farben, Lichtern und Tönen das Gegenspiel und Geschwister der Tragödie, die Komödie, erweckte.
Zunächst hat es der antike Mensch wohl aus einfacher Notwehr gegen sein als tragisch erkanntes Los auf die ursprünglich kräftige Art des Lebensrausches gegen den Tod versucht: im faschingshaften Treiben ältester Zeiten tollt er sich aus und treibt und wirbelt nach der Entstehung der Tragödie weiter, wenn nach der tagfüllenden Aufführung der tragischen Trilogien voll Leid und Haß, voll Göttergrausamkeit, Menschenirrnis und Schicksalsverkettung, voll der tiefsten und herzrührenden Erkenntnisse die plumpen Satyrn im burlesken Spiel über die Szene trampeln, in einem Ausbruch vitaler Gewalt die Menschen mit sich hinwegreißend aus der Nähe des für jedermann dunkel drohenden Untergangs und Todes. Die Übergänge vom Satyrspiel zur Komödie verschwimmen im Unbestimmten. Saftig auftrumpfende Angriffslust, Spott, Gelächter, Aufreizung, Neckerei und Witz in allen Spielarten sind jedenfalls früh im heiteren Drama hochgewuchert. Als es uns mit Aristophanes unlöslich verbunden unter dem Namen Komödie entgegensprüht, ist es schon eine ungebärdig gesteigerte, mit allen Gnaden der Phantasie begabte, aber gleich der Tragödie in sich gefestigte und geregelte Kunstform geworden; doch ist der Wille, durch Ausgelassenheit und Wildheit die drohende tragische Nähe zu überbrausen, noch sehr spürbar in dem Ausbrechen praller Lebenslust, wie sie seit jenen Zeiten niemals mehr so unverhüllt, saftig, von aller Scham absehend natürlich sich darbot. Zugleich ist die Komödie dem freien dichtenden Spiel aufgetaner als die Tragödie in der Erfindung von Gestalten, Lagen und Vorgängen, weniger ehrfürchtig als jene strebt sie über alle überkommenen Grenzen des Mythos hinaus und überschlägt sich in wirbelnden Einfällen und einer wahren Inbrunst am Leben in seinen ursprünglichsten Offenbarungen und hält sich doch näher an die Wirklichkeit in angriffslustiger Auseinandersetzung mit ihr. Dieses zeitkritische und -satirische, ethisch politische Element kommt, herausgefordert durch die besonders gefährdete politische Situation des Peloponnesichen Krieges, in der Komödie immer stärker zum Durchbruch, und als sie, mit den Jahrzehnten sanfter geworden, weniger heftig in Wolken und himmlische und unterirdische Kuckucksheime bis vor die Tore der Götter vorstürmt, bleibt ihr doch der ethische Impuls und die in der griechischen Philosophie beheimatete Überzeugung, die die Tragödie nicht immer teilen konnte, daß das Böse zugleich das Unwissende und Lächerliche ist, das notwendig zu Schaden kommt, während dem Guten, welche Irrungen und Schmerzen er auch durchqueren muß, endlich die Errettung wird.
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