„War’s so schlimm, Rinkel?“ kroch Lindolf an das Loch des Bauern heran und blieb im Laufgang vor ihm hocken.
„Ja. Bitte doch deinen Leutnant — er soll einen andern nehmen.“
„Aber — schau doch, ich halte es aus — ich — drei von meiner Sorte kann man aus dir machen —“
„Ich weiss nicht,“ sagte Franz traurig, „ich werde verrückt in diesem Lärm. Ich bin das nicht gewohnt.“ Und er begann von seinem früheren Leben zu erzählen — — „Mai ist jetzt bald, da wächst schon das Getreide. Der Vater sitzt mit der Mutter vor der Tür. Und Johanna ist dabei.“ Er zog ein Bild hervor: „Das ist Johanna. Sie wird sterben, wenn ich sterbe.“
„Rinkel, nicht so schwarz sehen. Gar nichts denken.“ Lutz dachte nicht mehr an Adelheid. Manchmal an die Mutter. Aber auch so: bald bin ich vergessen. Alles wird überwunden.
„Waren hier auch einmal Wälder?“ fragte Franz.
„Ja. Sicher.“
„Und Felder?“
„Ja.“
„Mit wachsendem Brot?“
„Ja.“
„Mit Blumen?“
„Ja.“
„Mit Nachtigallen vielleicht, mit Amseln?“
„Ja.“
„Und Lerchen?“
„Ja. Hast du gestern früh die Lerche nicht noch über uns gehört? Sie sang, bis dies blödsinnige Geschiesse heute begann.“
„Eine Lerche ist hier über uns?“
„Ja, Franz.“
„Dann will ich leben, bis ich sie noch einmal höre.“
Lutz lächelte. Und er streichelte die dicke Faust des nach Gomorrha verschlagenen Bauernjungen.
„Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun, sie zerstören die Aecker, sie zerfleischen die Erde —“
„— und die Menschen —“
„Sie tragen die Hölle in die Stille der Felder —“
„— und in unsere Seelen —“
„Wer macht das, Lindolf? Wer ist der Mörder?“ schrie Franz.
„Wer? Wir alle.“
„Ich habe mit dem Kriege nichts zu tun. Ich wusste kaum, dass es Franzosen gab, und dass sie uns berauben wollten.“
„Das wussten wir alle — kaum. Es hiess so. Wie von uns drüben dasselbe heisst. Jeder einzelne, befragt, sagt: Ich wusste es nicht, ich habe nichts gegen euch. Aber es lag in der Luft.“
„In meiner Heimat lag nur Friede in der Luft und der Duft der Felder.“
„In meiner Heimat war immer Krieg. Um die Bergwerke und Hütten lag fast die gleiche Kampflust wie hier. Nur unsichtbar. Aus den Hochöfen kroch der Krieg,“ sagte Lutz. Erst in dieser Stunde wurde ihm das offenbar.
„Dann wollen wir gegen die Hochöfen marschieren“, sagte Rinkel.
„Vielleicht — geschieht das — am Ende — —“
Eine fremde Offiziersstimme: „Leutnant Wynfrith. Wo ist die 12. Kompagnie, Leutnant Wynfrith?“
Lindolf sprang auf. Ein Oberleutnant von der Artillerie. Wynfrith stand auch schon neben ihm.
„Ich möchte mir hier einen Beobachtungsstand bauen. Geben Sie mir drei Leute.“
Neben Lindolfs Erdloch erstand der Ausguck des Artillerieoffiziers in dieser Nacht. Mit Misstrauen sah Lutz zu. „Schüttet aber alte Erde über die weissen Bretter.“ Der Artillerieoffizier hatte sich zum Versteifen der Ausguck-Wände schöne gehobelte Bretter mitgebracht. „Was quatschen Sie dazwischen?“ pfiff ihn der an.
Lutz ging zu Wynfrith: „Wir kriegen Zunder hierher, wenn die Franzosen die Veränderung an der Grabenecke merken.“
Wynfrith schwieg. „Wo Bernöckel stecken mag?“ sagte er nach einer Weile. „Pechtler sagt: drüben.“
„Hm — er war der letzte in unserer Kompagnie, der den Kriegsfreiwilligensturm bei Langemarck mitgemacht hat.“
„Das war noch was — Bewegung — vorwärts —?“
„Zu schnell vorwärts, zu siegesgewiss.“
„Aber schön. Deutschland, Deutschland über alles, sangen sie noch —“
„Weil sie ahnungslos waren. Nun wissen wir, wie es ist. Wem bliebe das Lied hier nicht in der Kehle stecken?“
„Striese ist tot, Herr Leutnant.“
„So, der Alte? Hat sechs Kinder. Ich hab nur zwei —“
„Es wird für sie doch gesorgt werden.“
„Meinen Kindern würde ich fehlen wie das tägliche Brot.“
„Sie sind doch jetzt auch lange fort, Herr Leutnant.“
„Aber ich lebe. Ich bin da. Sie beten für mich. Und hoffen.“
„Sie sind sehr glücklich zu Hause?“
Wynfrith schwieg.
„Nicht?“
„Gehen wir schlafen. Hier sind hundert Mark, nehmen Sie sie morgen zum Bataillonsstab mit, Lindolf. Man soll sie an Strieses Witwe schicken.“
„Sie sind ein guter Mensch.“
„Ich? Nur einer, der selbst hilflos ist, und daher andern hilft, vielleicht, weil er sich selbst so wenig helfen kann.“
„Herr Leutnant —“
„Geh schlafen, Junge.“
„Ja. Gute Nacht.“
Mit Sonnenaufgang setzte ein Geprassel und Getöse in dem Grabenwinkel ein, wo der Artillerieausguck aufgebaut war, und als Lutz aufwachte und aufsprang, war nichts mehr zu sehen, die beiden Telefonisten der Artillerie lagen, mit grässlich aufgerissener Brust der eine, mit abgesägter Schädelplatte der andere, Lutz zu Füssen. Bsching — das ging ganz nahe nieder!
„Herr Leutnant — wir müssen raus —“
Wynfrith war schon fort. Er lagerte mit Rinkel, seinem Burschen und drei andern, die noch in der Nähe des Ausgucks lagen, im Laufgang in der Nähe des Skatklubs.
„Ach — er lebt — — er lebt —!“ schrie einer, als Lindolf angekrochen kam.
„Verfluchte Schweinerei! Wo ist denn dieser Oberleutnant?“ schimpfte Lutz.
„Der ging, wie es hell wurde. Aber seine beiden —“
Wynfrith drückte Lutz die Hand. „So was passiert alle Tage — lasst das Schimpfen —“
„Sind von uns welche auch getroffen?“
„Ja. Zwei. Schwer verwundet. Wiebe und Markwardt bringen sie nach hinten.“
Und der vierte Tag begann, und wieder ging es auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum 10 Meter im Umkreis entfernt einschlagend — — —
Lindolf, Rinkel und der Bursche buddelten rechts und links vom Skatklub neue Löcher. Nach einer halben Stunde — jedesmal, wenn die Schüsse vorüberkamen, rief Rinkel nur noch „Jesus! Maria!“ — beten konnte er nicht mehr — dann klebte sich jeder in sein neues Erdloch hinein — wie Bienen in die Waben.
Indessen wurden ihre alten Unterschlupfe zerprasselt. Als Lutz zu van Heusen kroch, festzustellen, ob die M.G.-Kompagnie überhaupt noch da war, — wusste er nicht mehr in dem immer noch wüst aufspritzenden Schutt, von metallischen Einschlägen umsprengt, wo sein Erdloch gewesen war.
Van Heusen wartete mit seinen M.G.-Schützen noch immer am Grabeneingang. Die Maschinengewehre, die er bei Anbruch der Dunkelheit in die zusammengeschossene Sappe geschickt hatte, waren wieder zurückgezogen.
„Womit habt ihr denn die drüben geärgert?“
„Einer von der Artillerie baute sich mit weissem Holz einen Ausguck.“
Van Heusen fragte nur, eine abfällige Aeusserung unterdrückend: „Was gibt’s?“
„Ich wollte bloss sehen, ob Sie noch da sind, Herr Leutnant.“
„Wir sind noch da. Auf Wiedersehn!“
Lutz kroch zurück. Die M.G.-Schützen sassen da vorn herum wie auf den Trümmern Babylons.
Aber sie weinten nicht. Sie klebten an der Erde neben den Maschinengewehren, den Blick auf den Feind.
Nachmittags begann die deutsche Artillerie zu schiessen. Sie schoss gut. Wenn auch die beiden Artilleristen gefallen waren, sie haben im ersten Dämmergrauen zusammen mit dem Oberleutnant die Entfernungen festgestellt. Bis sie schwiegen und ihre Telefonstrippe zerriss. Aber nun schoss es vom Toten Mann hinüber nach 304 ebenso wild und sicher wie von Höhe 304 zum Toten Mann.
„Heute wirst du die Lerche nicht hören, Rinkel,“ flüsterte Lutz. Sie lagen zusammen in ihrem neuen provisorischen Unterschlupf.
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