Wynfrith — die Flieger hingen über dem Bahnhof immer dichter kreisend — befahl, ohne Weisung abzuwarten: „Auseinander! In die Unterstände! Marsch! Marsch!“
Die Bomben fielen auf den leergefegten Bahnhof. Ein Waggon mit Weinflaschen wurde zertrümmert, die Gleise zerspellt hie und da, an einer Ecke das Dach des Bahnhofsgebäudes beschädigt. —
Indes hatten Pechtler, Töz und Pogoslawski ihren Dauerskat im Unterstand kurzerhand begonnen.
Wynfrith sass mit Lindolf und Bernöckel, der nur noch vor sich hin stierte, in einer Ecke.
„Das nennt sich nun Ruhe,“ sagte der Leutnant.
„Was wollen Sie? Die Franzmänner wollten doch der ollen Cäcilie nur ein paar Brustbonbons schenken.“
„Halt die Schnauze,“ knurrte der Leutnant.
Am Eingang des Unterstandes schrie es: „Achtung!“
Major Graf Böchlarn: „Herr Leutnant Wynfrith?! Ich suche Sie. Die Flieger sind längst fort. Und die Kronprinzessin mit Kaiserlicher Hoheit im Auto eingetroffen. Sehr peinlich, lieber Wynfrith. Hätte für Sie sicher Vorteil gehabt. Beförderung oder Orden — — Was machen Sie denn hier?“
„Ich fühle mich immer in erster Linie für meine Kompagnie verantwortlich, Herr Graf.“
„Schweigen Sie —.“ Wütend ging der Major hinaus.
Wynfrith lachte: „Kommt, Kinder, wir gehen nach Hause.“
Der Major aber war wieder gänzlich gegen Wynfrith eingenommen. Die Herren verbummeln an der Front, dachte er. Das geht denn doch nicht!
Die Kompagnie zog aber die Strasse an der kronprinzlichen Villa vorbei und sang:
„Unser Leutnant, der soll leben—“
Wieder vorn. Im alten Erdloch. Lutz fand sein liegengelassenes Taschenmesser sogar noch wieder mit einem Zettel daran: „Ich hätte es dir gern geklaut, aber hier macht man sowas nicht.“
In die Sappenstellung war die aufgefüllte M.G.-Kompagnie eingerückt. Ihr neuer Führer Hjalmar van Heusen, der Hofschauspieler.
Wynfrith lag mit seinen Leuten an der alten Stelle. Nur wenige Erdlöcher blieben frei, die das letzte Mal noch von der Kompagnie besetzt werden konnten ....
So ging es eigentlich diesmal ganz friedlich zu, und bis zum dritten Tage, da das Trommelfeuer begann, nahm alles seinen fast geschäftsmässigen Gang mit ein bis zwei Verwundeten täglich. Das brachte der Betrieb hier nun mal mit sich, wie Töz sagte.
Bis dann am dritten Tage vormittags 11 Uhr das Trommelfeuer begann — Sturmvorbereitung der Franzosen. Sie wollten von der Höhe 304 herab ins Tal.
Verkrochen, ein jeder in seinem Erdloch, die ganze Kompagnie. Der ganze Bataillonsabschnitt. Die kleinen Geschosse der Feldartillerie beachtete man kaum, weil sie gewöhnlich an der Brust- oder Rückenwehr zerplatzten und ein bisschen Erde in den Graben schmissen; nur der durch die Luft dem Krach langsam nachsummende Zünder war gefährlich, wenn er traf. Und wenn ein verirrter Splitter wirklich ritzte, — so gab es eine leichte Verwundung; „es lohnt sich gar nicht, damit abzuhauen,“ meinte Pechtler, der bei Beginn des Trommelfeuers sein Erdloch nur etwas tiefer ausschippte, um da mit Töz und dem poltrigen Pogoslawski den Dauerskat fortzusetzen.
Aber wenn die „schweren Kisten verladen wurden“, das ging, schlug solch Ding in die Nähe, schon heiss bis ans Herz und die Angst sass dann fest im Magen.
Die in die Grabenwände gehöhlten Unterschlupfe krachten oft mit ihrem Oberteil über den sich in das Erdloch Hineinkrümmenden zusammen. „Der hat ganze Arbeit gemacht,“ sagte dann Töz, und die Drei stockten eine Weile im Kartenspiel, ob jemand in der Nähe schrie. „Na, vielleicht widder daneben — pieronie,“ sagte Pogoslawski jedesmal — „hirr — Karobube — wer kann? Wer hat? Pieronie!“
Eine Stunde, zwei Stunden — — es wird Nachmittag — es wird Abend — — Lutz hatte sich kaum in seinem Erdloch gerührt. Er kroch in die Erde wie in den Mutterschoss zurück. Hilflos. Angstgejagt von den Granaten, die den Graben auf- und abtasteten. Alle vier bis fünf Minuten bestrich die feindliche Artillerie in diesem Auf und Ab die Gräben am Fusse der Höhe 304 entlang die unmittelbare Umgebung von Lindolfs Erdloch. Dann krachte es nicht nur dumpf, sondern hell metallen in der Nähe, und ein Geprassel von Erdklumpen und Splittern hagelte nieder. Wenn Lutz in den Laufgraben hinaussah, kaum den Kopf wendend, die vor das Erdloch gehängte Zeltbahn nur wenig wegschiebend — dann lagen in der Erde verstreut die rissigen Splitter der amerikanischen Granaten ganz dicht neben ihm.
Auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum zehn Meter im Umkreis entfernt einschlagend, dann wieder weiter rollend, gewaltig donnernd, aber das Ohr war geübt — — die galten andern. Wer lebte noch? Keiner wusste es vom nächsten. Der Leutnant, der schräg gegenüber mit seinem Burschen seine kleine Höhle hatte, rührte sich ebensowenig wie alle andern. Manchmal schleppte sich einer vorbei, meist von der Maschinengewehrkompagnie aus der Sappe — hier ging es am heissesten zu. Auf einen Abschnitt von kaum 30 Metern schossen 6 Geschütze ununterbrochen. Die Sappe hatte van Heusen längst räumen lassen, die aus 300 Sandsäcken aufgebaute Barrikade, die die Stellungen abriegelte, war längst eingeebnet, verschwunden, ein einziger Schurrmurr von Stein und Stahl und Erde, kein Graben mehr, die Wände eingeebnet, nur riesige Trichter — — und überall Tote darin oder noch zuckende Schwerverwundete.
An der Grabenecke zur Sappe, wo die Schiesserei „nur“ so heftig war, wie in der Gegend der 12. Kompagnie, stand lauernd ein Maschinengewehr, van Heusen, einen Unteroffizier und zwei Gefreite neben sich. Sie warteten, dass aus irgendeiner Ecke ein Franzosentrupp auftauchte mit Flammenwerfern oder Handgranaten. Aber sie kamen immer noch nicht.
„Wenn sie wenigstens endlich kämen,“ sagte einer der Gefreiten. „Das hält ja kein Schw — —,“ da lag er. Getroffen.
Auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum zehn Meter im Umkreis entfernt einschlagend, dann wieder weiter rollend, gewaltig donnernd noch, aber genügend fern, um die Gedanken wieder zu finden — eine Stunde, zwei, drei — sieben Stunden. In die Erde platt gedrückte Angst, wanzenhaft, nur die Erschütterung der Schüsse im Bewusstsein — Sekunde um Sekunde — Stunde um Stunde — das war alles, was vom stolzen Menschen-Ich übrig blieb. Erinnerungsfetzen des früheren Lebens durchschossen phantasiehaft das Hirn. Kein Durst. Kein Hunger. Die Glieder erstarrten, unbeweglich ins Erdloch eingepresst. Ja, ja — noch da — Getöse ganz nah — schon wieder — schreit wer? — Blut? Bloss Schweiss ... Mutter, wozu kam ich auf die Welt? Um bis in dieses wahnsinige Wüten der Geschütze zu gelangen? Das Herz hämmert. Manchmal noch lauter als die Einschläge der Granaten. Wandern auf und ab, noch immer. Zum tausendsten Male: auf und ab. Zermalmen und pflügen. Schleudern eiserne Nägel und Dolche, durchbrechen Menschen und Erde.
Hirschfeld wartete: Heut naht die Sühne. Er sass im Laufgang ausserhalb des Erdlochs, ass seine eiserne Ration auf, schrieb an seine Mutter — und wartete.
6 Uhr. Die Sonne sah schräg und rot in die zerschossenen Gräben der 313er. Aber sie hörten nicht auf. Die ganze Höhe 304 spie Feuer, das auf die Gräben niederging, als gälte es, Sodom zu strafen. Lutz hatte gehofft, dass das Trommelfeuer bis dahin stoppen würde. Es war die Stunde der Abendmeldung. Bisher konnte er noch jeden Abend pünktlich loslaufen, zusammen mit Bernöckel, der aber, ohne dass es der Leutnant wusste, nach zweihundert Metern bei irgendeinem Kameraden liegen blieb: „Lauf allein. Es wird dir nichts passieren,“ und stumpf seine Zigarette anzündete und den Rauch vor sich hinblies.
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