Arnold Wyllie sah auf die Uhr und legte die Zeitung beiseite. Mit einem Zug leerte er seine Kaffeetasse, beugte sich runter, nahm Rays Dokumentenkoffer und verließ das Lokal.
Ray versuchte, die Aufmerksamkeit des Bartenders auf sich zu lenken, während er mit dem Fuß Wyllies Koffer näher zu sich zog.
„Kann ich bitte einen doppelten Espresso haben?“
„Sofort!“
Der Bartender war am Fenster mit einem anderen Gast beschäftigt. Beide kommentierten laut die Geschehnisse auf der Straße, wo Menschen in Richtung Kongressgebäude rannten. Der Bartender machte keinerlei Anstalten, Rays Bestellung demnächst auszuführen.
Ray zögerte einen kurzen Moment, dann stand er auf und kehrte mit Wyllies zurückgelassenem Koffer auf die Straße zurück.
Pieter Boeck eilte die Treppen zu Norris‘ Büro im dritten Stock hoch. Immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte unglaubliche Neuigkeiten. Er hatte gerade aus dem Radio erfahren, dass Luwamba ermordet worden war.
Luwamba, über den sie im letzten Jahr so viel diskutiert hatten, weil sein Handeln besorgniserregend für die wichtigen amerikanischen Interessen war. Jetzt war alles anders.
Er klopfte an die Tür zu dem Zimmer, das Norris während seiner Anwesenheit zur Verfügung gestellt worden war.
„Herein!“
Hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in einem auch ansonsten luxuriös eingerichteten Büro im dritten Stock der Botschaft in Pretoria saß Bertram Norris. Er war ein großgewachsener, blonder Mann in seinen Vierzigern, mit blauen Augen und Lachfalten, die ihm einen dauerhaft zufriedenen Ausdruck verliehen. Trotz der Hitze trug er einen dunklen Anzug mit Krawatte, sah aber dennoch cool und entspannt aus.
Er sah lächelnd von dem dicken Bündel Feldberichte auf, als Pieter Boeck außer Atem in das Zimmer stürzte.
„Mr Norris!“, keuchte er, noch abgekämpft von der Treppe. „Auf Luwamba ist geschossen worden!“
„Was?“ Norris fiel das Kinn herunter. „Was sagen Sie da?“
„Ich habe es im Radio gehört. Es gibt auch eine Sondersendung im Fernsehen!“
„Wann ist das passiert?“
„Gerade eben! Ein Scharfschütze bei der Kongresshalle, als Luwamba gerade hinein wollte.“
Norris stand auf und stellte den Fernseher in der Ecke an.
„Lebt er noch?“, fragte er.
„Nein, er war sofort tot!“, sagte Boeck. „Sein Kopf ist quasi in tausend Stücke zersprungen.“
Norris sank in den Sessel vor dem Fernseher und betrachtete mit ernster Miene die Reportagebilder vom Ort des Attentats. Ein aufgeregter Reporter stand vor einer Säule des Kongressgebäudes und sprach angespannt von den denkbaren Folgen des Mordes. Man befürchtete Demonstrationen und vielleicht Randale. War das hier der Auftakt für einen langen, heißen Sommer für Südafrika?
„Furchtbar!“, sagte Norris.
Boeck nickte. Was geschehen war, war furchtbar. Aber gleichzeitig spürte er Zufriedenheit. Der Mord hatte schließlich ihr Problem gelöst, als hätten die Götter eingegriffen, dachte er. Deus ex machina.
„Mr Norris, das kommt uns sehr gelegen“, sagte er leise und mit einem angedeuteten Lächeln.
Norris sah ihn kalt an.
„Das ist unglaublich zynisch, Boeck“, sagte er scharf und sah aufrichtig verstört aus über die rücksichtslose Direktheit. „Es ist grauenhaft. Ich hoffe wirklich, dass sie den Mörder so schnell wie möglich finden!“
Das Lächeln des jungen Angestellten erlosch unmittelbar, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst.
„Aber Sie haben recht, dass sich die Situation dadurch verändert hat“, fuhr Norris mit milderem Ton fort. „Dies ist eine ganz neue Ausgangslage, zu der wir Stellung nehmen müssen.“
Norris verstummte und sah gedankenverloren aus dem Fenster.
Boeck versuchte die Falten aus seinem hellen Baumwollanzug zu streichen. Er spürte sein Hemd am Rücken kleben. Der Kragen musste fleckig vom Schweiß sein. Er steckte einen Finger in den Kragen und fuhr mit ihm an der Innenseite entlang. Er wagte es jedoch nicht, seine Krawatte zu lockern. Sein amerikanischer Chef hatte ja sogar einen zugeknöpften Anzug getragen, obwohl er allein in seinem Büro gewesen war.
„Boeck, halten Sie mich auf dem Laufenden, informieren Sie sich über die Geschehnisse“, sagte Norris nach einer kurzen Pause und stand auf. „Ich muss New York anrufen.“
„Okay, Mr Norris“, sagte Boeck erleichtert und eilte aus dem Zimmer.
Norris lächelte in sich hinein. Die Lachfalten um die Augen zogen sich zusammen. Er sah erleichtert aus. Er ging zum Fenster und stellte die Jalousien so ein, dass er auf die Straße sehen konnte. Das ging schneller als erwartet, dachte er. Weniger als zwei Monate, seit der Ball ins Rollen geraten war. Und nun war Luwamba tot.
Ein sehr kompetenter Killer, stellte er fest. Diesen Kontakt sollte man sich merken.
Bertram Norris arbeitete seit dem Ende der Sechzigerjahre für die CIA. Erst in Indochina, in den Siebzigern dann vor allem in Lateinamerika.
In Lateinamerika war es Norris‘ Aufgabe gewesen, so energisch und unsichtbar wie möglich amerikanisches Eigentum und amerikanische Interessen zu schützen. Das hatte vor allem bedeutet, verschiedene Diktaturregimes und deren Generäle zu unterstützen.
In diesem Zusammenhang hatte er Jack Pallon, einen amerikanischen Multimillionär kennengelernt, dessen Firma Pallon Enterprises Inc. Hektar um Hektar Obstplantagen in Lateinamerika gehörten. Pallon war Enteignung von den Staaten angedroht worden, in denen seine Tätigkeit die Wirtschaft komplett dominierte. Staaten, die den Namen „Bananenrepublik“ wahrhaftig verdienten.
Es gab notwendige Operationen, mit denen sich die CIA aus moralischen und politischen Gründen nicht befassen durfte. Operationen, die eher auf Privatfirmen und deren Gewinne abzielten als auf die amerikanische Sicherheitspolitik. Es kam drauf an, wie man es betrachtete. Norris‘ Auffassung dazu war eindeutig: Amerikanische Interessen gingen immer vor.
Manchmal musste einfach eingegriffen werden, obwohl die Organisation es nicht durfte. Es war wichtig, dass dieses Eingreifen nicht hergeleitet werden konnte, um nicht Ziel von Ermittlungen und Ausschussanhörungen zu werden. Es musste so weit wie möglich von der CIA und deren Personal entfernt geschehen. Die lenkende Hand musste unsichtbar sein. Das war Norris‘ Spezialität.
In einer südamerikanischen Republik hatte Norris bestimmte Gegner von Pallon eliminiert. Einen Politiker und einen General. Nicht persönlich, sondern mit der Hilfe von Vermittlern, die nichts mit der Arbeit der CIA zu tun hatten und in den meisten Fällen nicht einmal wussten, dass sie Vermittler waren oder woran sie gerade beteiligt waren. Die Morde wurden von angeheuerten Berufskillern ausgeführt, die mit den Kartellen verknüpft waren.
Pallon hatte seiner Dankbarkeit persönlich Ausdruck verliehen und Norris hatte sich das Haus in Vermont kaufen können.
Dass Norris sich nun in Südafrika befand, lag teilweise ebenfalls an Jack Pallon. Eine seiner Tochterfirmen war das Ziel einer Kampagne heftiger Kritik gegen ausländische Firmenbesitzer gewesen, die Luwamba initiiert hatte.
Aber Norris‘ Hauptaufgabe war, die Arbeit der CIA im Land neu zu organisieren.
Im Fernsehen hatte man nun einige politische Gutachter um einen Tisch im Studio versammelt und diskutierte die politischen Konsequenzen des Mordes. Mit einem Auge auf dem Fernseher nahm Norris das Telefon und drückte die Kurzwahl nach New York.
Auf der anderen Seite des Atlantiks ging Jack Pallon persönlich ans Telefon.
„Hallo, hier ist Norris!“
„Hallo, Bert, bist du noch immer in Afrika?“
„Ja, aber … das Fahrwasser hat sich verändert“, antwortete Norris.
Es bestand kein Zweifel, dass Jack Pallon die kryptische Aussage von Norris verstand. Pallon grinste breit.
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