Aber eine Sache unterschied ihn deutlich von allen anderen im Strom der anzugtragenden Aktenkofferträger: In seinem Koffer befand sich eine tödliche Waffe.
Zwei Wochen zuvor hatte Ray Lambert das Gewehr von einem Waffenhändler in Kapstadt gekauft. Ray hatte ihn nicht zufällig ausgewählt. Er hegte einen starken Widerwillen dagegen, die Grenzen mit einer Waffe im Gepäck zu überqueren. Sobald er diesen Auftrag über seine Kontakte in London bekommen hatte, suchte er nach einem Waffenhändler mit einem passenden Hintergrund. Er hatte Graeme Mulholland gefunden, der schon viele Jahre umfangreiche illegale Waffengeschäfte machte, sowohl mit Mitgliedern des rassistischen Broederbunds als auch mit gewöhnlichen Kriminellen. Offenbar hielten ihn keinerlei Skrupel davon ab. Diese Eigenschaften machten ihn zu einem angemessenen Waffenhändler.
Mulholland hatte überhaupt nicht helfen wollen. Erst als Ray mit seinem Wissen über Mulhollands Vergangenheit auspackte und ihm außerdem eine Entschädigung versprach, hatte er eingelenkt, ohne Fragen zu stellen.
Einige Tage später hatte Ray ein nagelneues demontierbares Gewehr beim Waffenhändler zu Hause abgeholt. Beim Probeschießen hatte alles perfekt funktioniert. Er musste nicht einmal das Zielfernrohr einstellen – auf hundert Meter Entfernung hatte der Schuss fast exakt den Punkt getroffen, den er anvisiert hatte. Die Abweichung betrug nur wenige Millimeter.
Das Gewehr hatte 2000 Rand gekostet.
Ganz oben auf dem staubigen Dachboden eines älteren Mietshauses am Rande vom Johannesburger Zentrum hatte Ray Lambert den perfekten Platz gefunden. Vom Dachbodenfenster hatte er freie Aussicht auf den Platz und das ockerfarbene Kongressgebäude am anderen Ende.
Er zündete sich eine Marlboro Light an und sah zu, wie der blaue Rauch sich langsam durch das Sonnenlicht nach oben schlängelte, das durch ein Dachfenster fiel. Die Zigarette schmeckte schwach und harmlos, aber er dachte, dass das ein guter Übergang sein könnte, bevor er ganz aufhörte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er sich bereit machen sollte. Die letzten Wochen hatte er sein Opfer genau beobachtet und seine Gewohnheiten kennengelernt. Er holte eine kleine Filmrollendose aus Aluminium aus seiner Hosentasche, schraubte den Deckel ab und drückte die Kippe sorgfältig darin aus. Er steckte die Dose wieder in die Tasche und wandte sich zum Fenster.
Fast im selben Moment knackte es im Walkie-Talkie, das im offenen Dokumentenkoffer neben ihm lag. Eine Reihe kurzer Klicklaute, dann Stille. Das war das verabredete Signal.
Schnell griff Ray Lambert nach der Waffe und schob den Gewehrlauf ein paar Zentimeter durchs Fenster. Man konnte es von der Straße aus nicht sehen, das hatte er vor ein paar Tagen mithilfe eines schwarzen Astes an derselben Stelle überprüft. Von der Straße aus hatte er die Fassade abgesucht. Wenn man nicht wusste, wohin man genau gucken oder wonach man suchen sollte, war kein Unterschied zu merken.
Ray musste nicht länger als eine halbe Minute warten.
In ein paar hundert Meter Entfernung glitt unter ihm ein blauer Chevrolet zum Kongressgebäude.
Auf der breiten Treppe zum Eingang, der mit hohen Säulen im klassischen Stil geschmückt war, saß ein Schwarzer mit einem Kinderwagen voller Zeitungen. Als er das Auto des Gewerkschaftschefs sah, leuchtete sein Gesicht auf. Er stand auf, nahm eine Zeitung aus dem Stapel und faltete sie zusammen, um sie ihm dann mit der üblichen andächtigen Verbeugung zu überreichen. Seit vielen Jahren kaufte der alte Luwamba jeden Morgen eine Zeitung bei ihm und wechselte ein paar Worte mit ihm. Luwamba wusste inzwischen sogar die Namen der Zeitungsverkäuferenkel. Der Zeitungsverkäufer wiederum wusste, dass der neue junge Chauffeur Luwambas Sohn Nelson war. Er lächelte breit. Die Eröffnungsreplik lag ihm schon auf den Lippen.
Abgesehen von den Männern im blauen Auto und dem Zeitungsverkäufer war der offene Platz fast leer, bis auf zwei schwarze Männer. Der eine lag etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt im Schatten eines Baumes auf einer Parkbank, der andere ging mit einer Weinflasche in der Hand quer über den Platz auf ihn zu.
Ray legte das Auge ans Zielfernrohr und stellte den Chevrolet scharf. Ein junger Schwarzer mit marineblauem Anzug stieg aus. Ray stellte fest, dass dies nicht derselbe Chauffeur wie an den vergangenen Morgen war. Der Chauffeur öffnete die Hintertür, nahm eine Aktentasche entgegen und half mit seiner freien Hand dem älteren Mann aus dem Wagen.
Ray sah, wie die beiden Männer sich gegenüberstanden. Der ältere legte seine Hand auf die Schulter des jüngeren und sagte etwas, das beide zum Lachen brachte.
Er zielte auf einen Punkt etwas über und vor dem Ohr des alten Mannes. Ray fühlte das wohlbekannte Kitzeln des Adrenalins, das durch seine Adern bis in die Fingerspitzen pumpte. Das kriechende Gefühl aus Unruhe und Unbesiegbarkeit. Eine angenehme, sinnliche, fast erotische Empfindung.
Er drückte den Abzug und der Schuss feuerte los.
Der Kopf des Gewerkschaftschefs schien zu explodieren und er wurde zu Boden geschleudert.
Nelson Luwamba verstand erst nicht, was passiert war, einige ewige Sekunden lang hörte sein Gehirn auf zu arbeiten. Überflutet mit dem Blut und der Gehirnmasse seines Vaters starrte er auf den leblosen Körper.
Im nächsten Moment fiel er auf die Knie und schlug die Arme um den Vater. Unkontrolliert schrie er los – ein Schrei der tiefsten Verzweiflung.
Ray Lambert schraubte schnell und routiniert die Waffe auseinander und steckte die Teile in den Dokumentenkoffer. Mit dem Blick suchte er alle Oberflächen ab, mit denen er in Kontakt gekommen war, um sich zu versichern, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er schloss die Tasche und verließ den Dachboden. Seit dem Schuss waren weniger als zwanzig Sekunden vergangen.
Weitere zwanzig Sekunden später war Ray unten an der Treppe angekommen. Er blieb hinter der Tür stehen, die in die kleine Seitenstraße an der Nordseite des Hauses führte. Ehe er auf den Weg hinaustrat, zog er sich ein Paar dünne, milchweiße, fast durchsichtige Gummihandschuhe aus und stecke sie sich in die Tasche.
Er spazierte zügig vom Haus fort und bog in die nächste Straße ein. Nach etwa hundert Metern trat er durch die Tür eines Lokals.
Gleichzeitig hörte er die ersten Polizeisirenen.
Ray Lambert sah sich in der halbvollen Kneipe um. Am Tresen saß ein Mann im khakifarbenen, zerknitterten Baumwollanzug. Die zwei Männer zeigten mit keiner Miene, dass sie einander kannten.
Der Name des Mannes war Arnold Wyllie. Ein knapp vierzig Jahre alter Boere, den Ray als Helfer engagiert hatte. Er hatte den Namen und die Adresse von seinem guten Freund und Kollegen Samuel Wilson in London bekommen. Wyllie war ein Kleinganove und Betrüger, der wiederholt wegen Diebstahls und Betrugs im Gefängnis gesessen hatte. Für Ray spielte es keine Rolle, dass sein Auftrag war, einen schwarzen Mann zu töten, es war ihm komplett egal, dass die Tat eine politische Motivation hatte – aber für Wyllies Beteiligung war dieser Fakt entscheidend gewesen. In dieser Hinsicht war er Idealist. Ein hingebungsvoller Anhänger der Apartheid.
Wyllie las eine Zeitung und schien sehr mit den Cricket-Ergebnissen im Sportteil beschäftigt zu sein. Ab und zu nippte er abwesend an seinem Espresso. Er hatte sich in das Lokal gesetzt, sobald der blaue Chevrolet vorbeigefahren war. In seiner Innentasche steckte das Walkie-Talkie, mit dem er Ray das Zeichen gegeben hatte. Jetzt saß er hier und wartete. Auf dem Boden neben ihm stand ein Dokumentenkoffer, exakt das gleiche Modell wie Rays.
Ray stellte seinen Koffer neben Wyllies und lehnte sich über den Tresen, während er sich eine Zigarette anzündete. Durch das Fenster zur Straße sah er, wie zwei Polizeiautos mit Sirenen und blitzendem Blaulicht vorbeirasten.
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