Er schaute zu ihr hinüber und vernahm ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Du darfst auf keinen Fall den Fehler machen, etwas von mir in dieser Bestie sehen zu wollen. Im Gegenteil, ich möchte, dass du gehst, bevor ich mich verwandele, damit du gar nicht in Versuchung geführt wirst, etwas Gutes in mir zu sehen. Das musst du mir versprechen! Versprich es mir, bitte!“, forderte er ungehalten ein.
„Ich habe dir doch schon mehrfach gesagt, dass ich es dir verspreche. Ich schwöre es dir! Zufrieden?“
Obwohl ihre Beteuerung nicht sehr einsichtig klang, hoffte er darauf, dass die Geschichte des Fluchs sie überzeugen würde.
„Mit dem Verschwinden des letzten Sonnenstrahls beginnt meine Verwandlung. Der Mond hat damit nichts zu tun. Es war anfangs überhaupt nicht möglich zu wissen, an welchen Tagen es passierte. Wir mussten uns überraschen lassen und die ersten Jahre erst einmal akribisch alles dokumentieren. Trotz unserer Recherche sind wir nur durch einen günstigen Zufall darauf gestoßen, dass es mit dem Todestag der Männer und Frauen zu tun hatte, die unser Vater durch Intrigen vor Gericht gebracht hatte, und die unschuldig im Gefängnis verstarben oder hingerichtet wurden. An deren Sterbedatum ereilt mich nachts der Fluch. Alle Verurteilten sind bereits gestorben. Unser Vater hat schlimme Dinge getan, sehr schlimme.“
Es klang fast bedrohlich, wie Máté das sagte. Gespannt zuckte sie mit den Schultern.
„Ich möchte trotzdem alles wissen. Egal, wie beschämend die Wahrheit sein wird. Wir haben etwas mehr als eine Stunde Zeit, bis wir an diesem alten Gutshof sind. Ich werde dir also aufmerksam zuhören.“
Er war gewillt, ihr alles über den Fluch zu offenbaren, jedenfalls fast alles.
„Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Es begann damit, dass Papa, obwohl er bereits mit Mama verheiratet war, eine geheime Liebschaft mit einer sehr jungen Zigeunerin namens Ileana Dumitrescu pflegte. Wie er sie kennenglernt hatte und wie lange das alles ging, weiß ich nicht.“
„Fremdgegangen?“, empörte sie sich laut.
„So etwas kommt in den besten Familien vor. Unser Vater war kein Heiliger, stelle dich darauf schon mal ein. Schau mal, wie schön die schneebedeckten Hügel in der Sonne glänzen.“
„Bitte erzähle weiter und lenk nicht ab.“
„Irgendwann kam es zwischen den beiden zum Streit. Warum, weiß so richtig niemand, jedenfalls ich nicht. Er soll Ileana dann im Zorn schwer misshandelt und auch vergewaltigt haben. Er leugnete diese Tat immer, wohl, weil er die Rache der Zigeuner fürchtete. Denn Ileana war nicht nur jung, sondern sehr jung, zu jung und als verheirateter Mann Schande über eine junge Frau zu bringen, entehrte alle. Unsere Familie, die Sippe – und so blieb nur eines: nämlich, es zu verheimlichen, besser gesagt zu leugnen. Natürlich erzählte Ileana ihrer Mutter davon und die blauen Flecken konnte sie wohl auch nicht verstecken. Das war der Auslöser.“
Máriskas Blick blieb starr. Sie streichelte den Hengst und schaute dann zu Máté hinüber, der pausierte.
„Was? Ich höre erst bis zum bitteren Ende zu. Wenn ich jetzt Fragen stelle, verliere ich wahrscheinlich den Überblick. Noch ist es wie eine Geschichte, die jemand anderem passiert ist, denn ich kenne unseren Vater als sehr liebevollen und sorgsamen Menschen. Also, erzähle weiter.“ Er nickte und fuhr fort:
„Unser Vater, sah nur eine Chance, dem Ganzen zu entrinnen und intrigierte gegen die ganze Sippe. Die Zigeuner rebellierten von Anfang an gegen ihn und irgendwie spitzte sich alles zu. Schnell wurden Drohungen ausgesprochen und ihm aufgelauert. Nicht nur, weil er sie geschlagen und über sie hergefallen war, sondern auch, weil herauskam, dass Ileana zum Zeitpunkt der Misshandlung bereits schwanger gewesen war. Die Sippe behauptete, Lévente sei der Vater des Kindes. Ileana und das Baby starben bei der Geburt im Gefängnis, denn dort hatte er auch sie hinbringen lassen. Er fädelte etwas ganz Raffiniertes ein und beschuldigte den damaligen Sippenführer Zsonzo Barasái der Tat an Ileana, aber dies konnte er nur seinen Getreuen weismachen.
Dieser kleinen Gruppe von umherziehenden Leuten wurden weitere Verbrechen untergeschoben. Verbrechen, von denen sich die eigentlichen Schuldigen bei unserem Vater freikauften und ihm dafür ihre uneingeschränkte Loyalität schwuren. So standen plötzlich Schuldige als Zeugen vor Gericht, um die Unschuldigen für etwas verantwortlich zu machen, was sie nie getan hatten. Unser Vater hatte hier einen genialen Plan und ein Netzwerk erschaffen, um das Recht für sich zu beugen und die Richter gleich mit. Diese unliebsame Sippe vermisste niemand in dieser Gegend, deshalb war es den meisten auch egal, wie sich derer entledigt wurde. So erzählte man es sich jedenfalls. Dokumente wurden zerstört, Namen geändert und die, die es hätten aufklären können, waren Teil dieses Komplotts und schweigen bis heute, sofern sie noch am Leben sind. Dieser Plan wurde bis zum bitteren Ende verfolgt.
Die Zigeuner wurden zum größten Teil direkt ausgelöscht oder eingesperrt. Katalin Dumitrescu, die Mutter von Ileana, schaffte es irgendwie zu entkommen. Sie rächte sich für den Tod ihrer Tochter, ihres Enkels und ihrer Sippenmitglieder, indem sie den Fluch des Werwolfs für seinen ersten männlichen Nachkommen aussprach. Das war ich. Der Fluch besagt, dass an dem Datum, an dem ein Sippenmitglied hingerichtet wurde oder im Gefängnis verstarb, ich mich nachts zu einem Werwolf verwandele. Genauso vollzieht sich jetzt der Fluch seit meinem achtzehnten Geburtstag bis zu dem Tag, an dem ich für immer die Augen schließen werde.“
Máriska war schockiert. Beide stoppten ihre Pferde und sie dachte laut nach.
„Deshalb haben sich alle von Papa abgewandt. Mama, Tante Eszter und einige Nachbarn. Seine Freunde waren die, die mit ihm in einem Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen gefangen waren. Das ist ja furchtbar. Wie konntest du solange allein mit diesen Tatsachen leben? Wieso hat mir davon niemand etwas gesagt?“
„Du warst ein kleines Kind, als Papa fremdging und später wollte niemand darüber reden. Das, was ich darüber weiß, hat mir nur unsere Mutter erzählt. Außerdem leugnete unser Vater diese Vaterschaft und die Tat an Ileana bis zum Schluss und befand, dass es für ihn keine andere Chance gegeben hätte, sich der fälschlicherweise gegen ihn gerichteten Rache der Zigeuner zu erwehren. Und …“
Máté verfiel in Schweigen.
„Und was? Was denn noch?“, fragte sie unruhig nach.
Ihr Bruder trieb sein Pferd wieder an und sie folgte.
„Vater konnte es nicht ertragen, einen Werwolf in der Familie zu haben. Er meinte, dass es kein Leben ist, als Werwolf sein Dasein fristen zu müssen. Es wäre für alle belastend und gefährlich. Anfänglich glaubte ich noch an eine Krankheit, bis Mama mir erklärte, dass es eben ein Fluch war. Sie ließ nichts unversucht, diese Verwünschung rückgängig zu machen, aber wir scheiterten. Wien schien deshalb geeigneter für einen wie mich, Fuß zu fassen. Unsere Mutter lehnte irgendwann jegliche Hilfe von ihm ab: Geschenke, Geld und auch seine Besuche. Warum das alles so kam, habe auch ich erst später erfahren.“
„Aber da muss doch etwas vorgefallen sein. Wieso hat sie mich einfach zurückgelassen und nichts gesagt? Nicht mehr geschrieben oder mich zu Besuch eingeladen?“
„Schmerz? Sorge? Ich weiß nicht, welche Abmachung die beiden getroffen haben, aber glücklich war sie über all das nicht. Niemand war es und trotzdem blieb es dabei, dass wir uns ein anderes Zuhause aufbauten. Besonders wegen eines Vorfalls.“
Máriska öffnete ihren Kragen.
„Mir wird ganz heiß. Das ist die Aufregung. Erzähl weiter, sonst halte ich das alles nicht aus. Was denn für ein Vorfall?“
„Also gut. An einem Tag im Winter, als es bereits dunkel geworden war und ich mal wieder etwas später nach Hause kam, schloss ich die Haustür auf und summte noch ein Liedchen vor mich hin. Ich bemerkte nicht, dass jemand im Treppenhaus auf mich gewartet hatte. Hinterrücks stach plötzlich jemand mit einem Dolch mehrfach auf mich ein. Mama hörte mich schreien und kam sofort die Treppe heruntergerannt. Sie schoss auf den Angreifer und traf ihn am Arm. Daraufhin flüchtete er. Das ganze Haus war plötzlich wach und alle kümmerten sich um mich. Wie du siehst, habe ich es überlebt.“
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