BETTINA HOERLIN
COURAGE
Im Schatten des Nanga Parbat 1934
Die wahre Geschichte des Bergsteigers Hermann Hoerlin
und einer lebensgefährlichen Liebe
Ins Deutsche übersetzt und bearbeitet
von Jochen Hemmleb
Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich.
Zukunfts Fonds
der Republik Österreich
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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2014
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag unter Verwendung
eines Bildes aus dem Archiv von Bettina Hoerlin
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal
ISBN 978-3-7022-3336-5 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3361-7 (E-Book) E-Mail: buchverlag@tyrolia.atInternet: www.tyrolia-verlag.at
Einführung: Briefe aus der Vergangenheit
TEIL 1: DEUTSCHLAND
1Die 54 Stufen
2Der Thron der Götter
3In den Fußstapfen von Humboldt
4Wo Bücher verbrannt werden
5Schicksalsberg
6„Liebe Käthe …“
7Die zwischen Wölfen tanzen
8„Wo gehöre ich hin?“
9Ein sonnenloses Jahr
10Ausreise
11Zusammen und doch getrennt
12Unter den Schwingen des Adlers
TEIL 2: AMERIKA
13Der einzig wirkliche Amerikaner
14Metamorphose
15„Oh, das ist lange her“
16Heimat
Dank
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Abbildungsverzeichnis
Für meine Kinder Noah, Jason, Kristine und Steven, die Oma und Opa kannten, und für meine Enkel und Enkelinnen, die sie nun auch kennen werden
EINFÜHRUNG: BRIEFE AUS DER VERGANGENHEIT
Die einzige greifbare Geschichte, die zurückgewonnen werden kann, ist die aus persönlichen Erlebnissen . Saul Friedlander: Nazi Germany and the Jews
(NAZIDEUTSCHLAND UND DIE JUDEN)
Der kleine Lederkoffer mit den Initialen meines Vaters, H. W. H., hatte schon etliche Jahre im Keller gestanden. Er war ein Teil des dort verborgenen Mischmaschs von Sachen, die teils vergessen, teils ignoriert waren, von denen man sich aber noch nicht trennen wollte. Die Ansammlung war nach dem Tod meiner Eltern gewachsen, als ich allerhand Dinge erbte – darunter auch den Koffer. Ob es an meiner mangelnden Neugierde lag oder – was wahrscheinlicher ist – an der Schnelligkeit und den Anforderungen des Alltags, jedenfalls blieb er ungeöffnet. Aber eines Tages, vielleicht an einem Regentag, lockte er mich. Im Koffer waren über 400 Briefe, die meine Mutter im Vorkriegsdeutschland zwischen 1934 und 1938 an meinen Vater geschrieben hatte. Sie waren sorgfältig gebündelt und mit verblasstem blauem Band zu Päckchen von jeweils einem halben Jahr zusammengebunden. Er hatte sie alle aufgehoben, und ich fragte mich, ob er sich überhaupt an sie erinnert hatte. Niemand in der Familie wusste von den Briefen. Mein Vater war vor meiner Mutter gestorben, aber sie selbst hatte solche Briefe niemals erwähnt. Ich denke, auch sie hatte sie längst vergessen.
Es dauerte zwei weitere Jahre, bevor ich die Briefe las. Dies lag zum Teil daran, dass sie in Sütterlin geschrieben waren, einer preußischen Schriftart, die in Deutschland bis in die 1940er-Jahre verwendet wurde. In der Vorkriegszeit war es die Standardschrift, die an den Schulen gelehrt wurde. Anfangs verzweifelte ich an der kunstvollen Zierschrift, aber mit der Zeit meisterte ich sie – und frischte gleichzeitig mein Deutsch auf. Inzwischen hatte ich mehr als nur ein beiläufiges Interesse an den unbekannten Seiten meiner Herkunft und beschloss, noch tiefer in die Kisten in unserem Keller vorzudringen. Und ich fand einen weiteren Schatz: über 100 Briefe, die mein Vater in dieser Zeit, 1934 bis 1938, an meine Mutter geschrieben hatte. Zusammen mit den 400 Briefen meiner Mutter konnte ich daraus eine bewegende Liebesgeschichte rekonstruieren, die sich in Nazideutschland während einer der schrecklichsten Epochen der Weltgeschichte entwickelt hatte.
Als ich begann, die Briefe zu lesen, war ich von ihnen gebannt. Briefe waren damals ein bedeutendes Kommunikationsmittel und lieferten einzigartige Einblicke in die Zeit und die Zeugen dieser Zeit. Vor allem öffneten sie mir einen neuen Blick auf meine Mutter und meinen Vater, die kaum über ihre jeweilige Vergangenheit gesprochen hatten. Vor mir lag eine unredigierte Fassung einer Romanze zwischen zwei Menschen, die ich immer mit den Augen eines Kindes betrachtet hatte: Ich wusste, dass meine Eltern bemerkenswerte Menschen waren (aber nicht, wie bemerkenswert); ich wusste, dass sie in ihrem Leben viele Hürden überwunden hatten (aber nicht, wie viele); und ich wusste, dass sie sich geliebt hatten (aber nicht, wie sehr). In Bezug auf die eigenen Eltern gibt es immer das „Andere“ – jene Dinge, die dich von ihnen unterscheiden, eine Kluft zwischen den Generationen und den Blickwinkeln. Die Briefe warfen mich direkt hinein in ihre Beziehung – ihre Leidenschaft und Aufregung – und bald auch ihre Missachtung der Diktate des Nationalsozialismus.
Die Stimmen meines Vaters und meiner Mutter zu „hören“, ihre gegenseitige Liebe zu fühlen und ihren Mut in einer Zeit gewaltiger Umwälzungen zu spüren, war der Hauptantrieb zu diesem Buch. Neben der Schatztruhe von Briefen fand ich bei ausgedehnten Recherchen bislang unveröffentlichtes Archivmaterial, welches es mir erlaubte, ihre persönliche Geschichte in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Die persönliche Geschichte meiner Eltern spielte sich in einem der bedeutendsten Abschnitte des 20. Jahrhunderts ab: dem Aufstieg des Dritten Reichs, den Erfahrungen der Auswanderer nach Amerika und der anhaltenden Bedrohung des Atomzeitalters.
Meine Eltern hatten sich durch einen Berg kennengelernt – einen der höchsten Berge der Welt. Keiner von ihnen war jedoch an seinen eisigen Flanken, als dort zehn Bergsteiger starben. Die deutsche Himalaya-Expedition von 1934 hatte etwas versucht, was bis dahin noch niemandem gelungen war: die Besteigung eines Achttausenders. Siegessicher nutzte Hitler die Expedition als Gelegenheit, die Überlegenheit der arischen Rasse und die internationale Vormachtstellung Deutschlands zu proklamieren. Stattdessen setzte die Expedition einen anderen Markstein: die bis dahin größte Bergsteigertragödie. Mein Vater hatte es abgelehnt, sich dieser Gruppe von Elitebergsteigern anzuschließen. Er war in Deutschland geblieben, um seine Doktorarbeit fertigzustellen. Hätte er zugestimmt, wäre er möglicherweise unter den Opfern gewesen und hätte meine Mutter niemals getroffen, welche die Pressearbeit für die Expedition übernommen hatte. Damit sie die grausamen Details aufarbeiten konnte, stellte ihr der Deutsche Alpenverein einen erfahrenen Bergsteiger zur Seite – meinen Vater, Hermann Hoerlin.
Hermann Wilhelm Hoerlin hatte während des heroischen Zeitalters des Alpinismus in den 1920er- und 1930er-Jahren mehrere Weltrekorde gehalten – einer Ära, in der wissenschaftliche Unternehmungen und Forschungsreisen mit dramatischen Bergbesteigungen verbunden wurden und in der die großen Nordwände der Alpen erstmals durchstiegen wurden. 1Eines Morgens, nachdem ich mich mehrere Tage in die Geschichte der Internationalen Himalaya-Expedition von 1930 vertieft hatte, murrte ich beim Frühstück zu meinem geduldigen Ehemann: „Heute muss ich meinen Vater auf den Gipfel bringen.“ „Vergiss nicht, ihn wieder runterzubringen“, meinte er mit einem Lachen.
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