Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk / Andrea Seidler / Jelena Spreicer / Aleš Urválek
Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs
Kollabierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Umschlagabbildung: Krsto Hegedušić: Rekvizicija (Requisition), 1929. Courtesy of the Museum of Modern and Contemporary Art, Rijeka
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ISBN 978-3-7720-8740-0 (Print)
ISBN 978-3-7720-0129-1 (ePub)
Die Kapitulation der Achsenmächte im November 1918 brachte Europa bekanntlich keinen Frieden – bereits 1917 begann eine Reihe von Revolutionen, Konterrevolutionen, Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und verschiedenen anderen gewaltsamen Konflikten, die sich über viele europäische Länder ausbreitete und bis 1923 andauerte. Diese Welle der politisch und ideologisch bedingten Gewalt, die sich nach einer Stabilisierungsphase mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 wieder entfesseln und ihren Höhepunkt mit dem Zweiten Weltkrieg erreichen würde, hing mit mehreren, miteinander eng verbundenen Ursachen zusammen: mit dem Kollaps großer dynastischer Imperien, mit der Gründung neuer, in vielerlei Hinsicht problematischer Nationalstaaten und mit der Entstehung zahlreicher radikaler Bewegungen, die ihre erklärten Ziele – ob nationalistisch-revisionistische oder sozial-revolutionäre – mit unterschiedlichen Formen der paramilitärischen Gewalt zu erreichen suchten. Dass die Gewalt der Nachkriegszeit auch im Kontext mehrerer bewaffneter Konflikte wie Balkankriege 1912–1913, die dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen waren, betrachtet werden sollte, versteht sich von selbst.
In der Erforschung des Ersten Weltkriegs ging man lange von zwei Voraussetzungen aus: 1) der Krieg begann Anfang August 1914 mit dem österreichisch-ungarischen Angriff auf Serbien und endete am 11. November 1918 mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes an der Westfront; 2) der Erste Weltkrieg war ein Krieg zwischen Nationalstaaten. In der neueren Zeit – z.B in den Forschungen von Historikern wie Robert Gerwarth, John Horne, Erez Manela oder John Paul Newman – wird der ‚Große Krieg‘ jedoch als Epizentrum einer großen Reihe bewaffneter Konflikte betrachtet, die einige Jahre vor 1914 begonnen und sich bis 1923 hingezogen haben. Als Anfang dieser Abfolge gewaltsamer Auseinandersetzungen werden der italienische Angriff auf die osmanische Provinz Libyen und der Ausbruch der Balkankriege 1912 angesehen, Kriege, die zu weiteren territorialen Verlusten des schon stark angeschlagenen Osmanischen Reiches führten. Nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs waren insbesondere die Nachfolgestaaten zusammengebrochener Imperien von der Gewaltanwendung heimgesucht, ein Prozess, der 1923 mit dem griechisch-türkischen Friedensvertrag von Lausanne ein (vorläufiges) Ende fand; im gleichen Jahr wurde auch der irische Bürgerkrieg beendet, die Weimarer Republik begann sich rasch vom Chaos der Nachkriegsjahre zu erholen und ein Jahr danach wurde mit der NEP auch die Konsolidierung Sowjet-Russlands eingeleitet.
Auch die zweite genannte Voraussetzung, wonach der Erste Weltkrieg als ein Krieg der Nationalstaaten angesehen werden sollte, wird in der neueren Zeit infrage gestellt. Sieht man hingegen den ‚Großen Krieg‘ primär als einen Krieg multiethnischer Reiche an, so kann auch die massive Gewaltanwendung vor 1914 und nach 1918 als Prozess einer Neuordnung von globalen Machtverhältnissen leichter nachvollziehbar sein. In diesem Prozess wird nämlich die politisch-räumliche Organisation Zentral-, Ost- und Südosteuropas – bis dahin von kontinentalen dynastischen Imperien dominiert – von einer neuen, nationalstaatlich bestimmten Ordnung ersetzt: Aus dem Zusammenbruch der alten Reiche der Habsburgs, Romanovs, Hohenzollern und Osmanen sind – zumeist instabile – Nationalstaaten hervorgegangen, die wegen ihrer multiethnischen Bevölkerungsstruktur oft an soeben zugrunde gegangene Imperien erinnerten und daher auch mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren.
Die größte Gefahr für die Begründung und Konsolidierung demokratischer politischer Ordnungen kam dabei von verschiedenartigen revolutionären und gegenrevolutionären Bewegungen, die nach dem Kriegsende insbesondere in den Nachfolgestaaten zusammengebrochener dynastischer Reiche entstanden sind und in ihrem Kampf gegen die liberaldemokratische Staatsordnung, oft aber auch gegeneinander, sich paramilitärischer Verbände bedienten. Den ‚Gewaltkulturen‘, die in verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedliche Ausmaße und Organisationsformen angenommen haben, gehört daher ein zentraler Stellenwert bei der Beschäftigung mit dem Untergang der Imperien, der Entstehung neuer staatlicher Entitäten wie auch den damit zusammenhängenden ethnischen Konflikten, Revolutionen und Gegenrevolutionen.
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Unterschiedliche Diskursivierungen der genannten Themenkomplexe, die dem historischen Rahmen der 1910er und 1920er Jahre entsprungen sind und in der darauffolgenden Zeit weiterentwickelt wurden, werden im vorliegenden Sammelband von Forschern und Forscherinnen aus verschiedenen Ländern, unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und differenten methodologischen Perspektiven aufgegriffen und diskutiert. Die hier versammelten Beiträge gehen auf Vorträge der Konferenz „Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs: kollabierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt“ – „Europe in the Wake of World War I: Collapsing Empires, Emerging States and Post-War Violence“ zurück, die an der Universität Zagreb im Rahmen des von der Croatian Science Foundation finanzierten Forschungsprojektes „Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne“ im März 2019 stattgefunden hat.
Der interdisziplinäre Ansatz, ein erklärtes Anliegen des an der Zagreber Germanistik situierten und an das Wiener Projekt kakanien revisited anschließenden Forschungsprojektes, ist auch im vorliegenden Sammelband von zentraler Bedeutung und reicht von den literatur- und kulturwissenschaftlichen bis zu den historiographischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Als primäre Untersuchungsbasis – ein weiteres Anliegen der Konferenz und der beiden Projekte – dient hier Literatur, jenes Medium, das über die besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses und damit auch die Prozesse individueller wie auch kollektiver Identitätsbildung komplex darzustellen. Über die Literatur hinaus werden die genannten Problembereiche auch in diversen nichtfiktionalen Diskursen und Formaten (Periodika, Vereine, politische und soziale Zeitphänomene mit Langzeitwirkung) erörtert, deren Entstehung nicht unbedingt in den fokussierten Zeitraum fällt, mit ihm jedoch in einer engen Verbindung steht. Aus einer solchen Ausrichtung der Beiträge geht auch die Gliederung des Sammelbandes in drei Sektionen hervor, deren jede schwerpunktmäßig einem der genannten Aspekte der Diskursivierung – theoretisch/historisch, publizistisch, fiktional – entspricht.
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