Máriska erhob sich und wollte seine Hand nehmen, doch er zog seine weg. Traurig meinte sie:
„Du bist jetzt gerade ein wenig ungerecht zu mir. Ich sehe, wie du leidest und ich will dir doch helfen. Werwölfe sind Kreaturen aus Sagen, Märchen und Mythen. Lieber Máté, es gibt sie nicht. Wer immer dir das erzählt hat, der hat sich geirrt. Oder er ist einfach nur von deinem Zustand erschrocken. Nimmst du Tabletten? Ist es die Krankheit? Was immer dann mit dir los ist, ich werde dir nicht von der Seite weichen, wenn es wieder passiert.“
Ohne Vorwarnung ergriff er Máriska an den Oberarmen und drückte sie zornig auf den Strohballen. Seine Augen blickten sie vorwurfsvoll und voller Ärger an.
„Ich bin ein Werwolf. Ein Werwolf! Ich brauche niemanden, der das anzweifelt, sondern jemanden, der mir hilft. Ich weiß es und es gibt Beweise. Ich bin gefährlich, richtig gefährlich, und deshalb benötige ich jemanden an meiner Seite, der die Welt vor mir beschützt. Wenn du das nicht einsiehst und mir nicht glaubst, dann muss ich schleunigst wieder von hier verschwinden.“
Er ließ sie los und sank am nächsten Stützbalken zusammen.
Sie hatte ihn so noch nie gesehen und erlebt. Das erste Mal in Ihrem Leben hatte sie sich vor ihm richtig gefürchtet. Sie krabbelte an seine Seite. Er wimmerte:
„Es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen. Verzeih mir. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich morgen wieder abreise und du alles vergisst, was ich dir eben erzählt habe.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Es muss niemandem von uns leidtun. Wir sollten uns darüber noch einmal in Ruhe unterhalten und zwar dann, wenn niemand uns zum Kaffee trinken erwartet. Dominik und die Kinder könnten bald kommen. Es ist etwas viel auf einmal gewesen. Verstehst du das? Der Strick, dann dein Geheimnis, dass du eine Bestie oder besser gesagt ein Werwolf sein sollst. Das muss ich doch auch erst einmal verdauen.“
„Bin. Ich bin ein Werwolf“, betonte er harsch.
Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung. Dem jungen Herrn tat es unendlich leid. Sie hatte recht mit dem, was sie sagte. Er war ungerecht. Was jahrelang schon Teil seines Lebens war, war nun etwas völlig Neues für sie. Er verlangte ihr viel ab, vielleicht zu viel. Sie konnte in ein paar Minuten nicht verstehen, was in all den Jahren passiert war und wie sehr seine Nerven blank lagen. Er fühlte sich ihr nah und verbunden. Erneut drückte er sie an sein Herz. Die Gräfin erwiderte die Liebkosung und erinnerte sich daran, wie es war, als ihr Papa sie so umarmte. Im Schutz dieses wohligen Andenkens erlaubte sie sich, sich zu beruhigen. Ohne seine Gefühle erneut zu verletzen oder seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen, musste sie dringend mehr herauszufinden. Auch wenn sie diese Werwolf-Geschichte nicht glauben mochte, so wollte sie trotzdem wissen, welche Gefahr von ihm ausging. Immerhin konnte er sehr wütend werden, dass hatte sie nun begriffen. Sie löste die Umarmung.
„Ich traue mich gar nicht zu fragen, aber muss ich denn um unsere Familie fürchten, wenn du da bist?“
„Nein. Ich kenne die Zeitpunkte meiner Verwandlungen, dann lasse ich mich einsperren und anketten.“
„Auf jeden Fall werde ich bei der nächsten Verwandlung bei dir sein.“
Aufgebracht mahnte er:
„Du darfst das nicht unterschätzen, was mit mir passiert. Warum begreifst du nicht, wie gefährlich ich bin? Es gibt Werwölfe und einer sitzt mit dir auf dem Fußboden. Alles, was ich vor dem Abendessen letztens erzählt habe, ist wahr – bis auf die Krankheit. Meine Krankheit ist in Wirklichkeit ein Fluch; ausgesprochen von einer Zigeunerin, die unseren Vater für etwas bestrafen wollte. Deshalb ist Mama von ihm weg und hat mich mitgenommen, damit diese Geschichte in Ungarn zu einem Ende kommt. Sie wollte die Familie vor dem Gerede schützen und vor meinen Klauen. Wenn ich zu einem Werwolf werde, dann bin ich nicht mehr ich selbst. Es bleibt mir keinerlei Erinnerung an das Geschehene. Mein Geschäftspartner und Freund András sorgt dafür, dass ich in diesem Zeitraum sicher weggeschlossen bin. Aber hier und da habe ich es geschafft, mich zu befreien, und dann passieren diese schrecklichen Dinge in Wien und der Umgebung. Er ist nun auf der Suche nach einer Frau in Rumänien, die den Fluch vielleicht aufheben kann. Infolgedessen brauche ich jemanden an meiner Seite, der mich versteckt, ankettet und wegschließt. Da habe ich an dich gedacht, denn diesem Jemand muss ich blind vertrauen können. Das ist der wahre Anlass für mein Kommen. Es tut mir leid, dass es jetzt wohl sehr enttäuschend für dich ist.“
„Nein, es ehrt mich, dass du immerhin an mich gedacht hast in deiner Not.“
„Aber im Schoß der Familie hat sich alles wieder wie früher angefühlt. Ich war stellenweise überglücklich. Es kam der Gedanke auf, dass ich dich nicht zusätzlich belasten wollte und da habe ich … das in Betracht gezogen, was ich des Öfteren schon in meinen Gedanken durchgespielt habe. Es war nicht mein erster Versuch, meinem Leben ein Ende zu setzen. Obwohl ich das alles nicht mehr aushalte, fand ich immer einen Grund, es zu verschieben. Mag sein, dass ich doch zu feige dafür bin.“
„Danach hat es vorhin wirklich nicht ausgesehen.“
„Ich weiß, aber wahrscheinlich hätte ich doch wieder einen Rückzieher gemacht.“
„Gott sei Dank! Jetzt, wo wir wieder zusammengefunden haben, helfe ich dir doch und möchte teilhaben an dem, was dich belastet.“
Er schaute ihr tief in die Augen und bat eindringlich:
„Du musst mich übermorgen verstecken, einsperren und anketten. Weit weg, damit mich niemand schreien und brüllen hört. Das ist jetzt das Wichtigste. Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, was ich über den Fluch und unsere Familie weiß. Alles, aber du musst darüber schweigen, und du darfst auf keinen Fall leichtsinnig werden, was mich angeht. Befolge alles, was ich dir sage, ganz genau, dann wird niemandem etwas passieren.“
Fassungslos saß sie da. Dass es nun auch noch einen Fluch gab und weitere Verstrickungen, ließ sie unruhig und gleichzeitig neugierig werden. Sie nickte zustimmend.
„Ich werde alles so machen, wie du es willst. Ich bin die Briefe schon fast alle durchgegangen und trotzdem fehlt etwas, um sie richtig zu verstehen. Werde ich das fehlende Bindeglied dann von dir erfahren?“
„Ja, wahrscheinlich. Komm, lass uns ins Haus gehen, sonst werden sie skeptisch.“
Sie klopfte die Strohhalme aus ihrem Kleid und blickte ihn an.
„Wie könnte ich mich denn deiner erwehren, falls du dich plötzlich befreien solltest? Würdest du uns angreifen oder instinktiv erkennen?“
Entschlossen stand er auf und zog sie hoch. Ohne weitere Worte lief er, mit ihr im Schlepptau, geradewegs zum Gutshaus. Verwundert stolperte sie an seiner Hand hinterher.
„Was soll das denn? Was ist denn in dich gefahren? Gib mir eine Antwort. Was müsste ich machen?“
Zwei dunkle Augen beobachteten beide, als sie über den Hof hasteten. Die Gestalt flüsterte bösartig:
„Du hältst dich wohl für besonders schlau, Máté.“
Ohne eine Antwort zu geben, schleppte der junge Herr seine Schwester ins Wohnhaus. Im Gang trafen sie auf Orsolya.
„Na endlich, wo bleibt ihr denn?“
„Wir kommen gleich“, beantwortete Máriska die Frage hektisch, während er Máriska die Treppe hoch zu seinem Zimmer zerrte und hinter ihnen die Tür verschloss.
Er setzte sie unsanft auf das Bett und öffnete seinen Nachttisch. Aus der Schublade holte er eine zweiläufige Pistole, legte sie in ihre Hand und befahl:
„Dann erschießt du mich.“
Der Gräfin zog es förmlich den Boden unter den Füßen weg, als sie auf die Waffe starrte.
„Du hast keine andere Chance. Das sind spezielle Kugeln. Geweiht und aus Silber. Nur mit denen kannst du mich töten. Andere Kugeln verletzen mich, aber nur kurz. Und auf einen Nahkampf darf sich niemand mit mir einlassen. Du darfst auch keine Gedanken daran verschwenden, mich nur verletzen zu wollen. Wenn du schießen musst, dann ziele richtig. Herz oder Kopf. Versprich mir das. Solltest du mich aber gut und sicher wegschließen, wird es dazu nicht kommen.“
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