«Keine Angst, Genossen, jetzt hat sie die hiesige Polizei. Es heißt, zur Anmeldung. Warum wirklich, wird man uns kaum sagen, hier sind wir nicht bei uns zu Hause, sondern im Westen, wo es von Geheimdiensten nur so wimmelt. Darum, Genossinnen, laßt die Pässe auch danach besser bei mir.»
Darauf hat keiner gemuckst, und es wurde der Schweinsbraten aufgetragen; mit dem Geklimper der Bestecke wurden auch die Stimmen wieder lauter. Die Verkäuferin begriff, daß der Widerstand in dieser Herde keinen Sinn hat, nachdem ihr nicht einmal die Indianerin beisprang. Die aber würde sie, wenn man nur so kurz in Wien sein soll, noch viel dringender brauchen. Um nichts zu vermasseln, machte sie sich mit Appetit ans Essen.
Der Mann hatte graumelierte Haare wie Stacheldraht, eine krumme Nase, und das ganze Gesicht war wie zerknautscht. Beim Essen schlürfte und schmatzte er, beim Sprechen spuckte er, aber immerhin verstand er Witze zu erzählen, er schüttelte einen nach dem anderen aus dem Ärmel, bis sich der Tisch vor Lachen bog. Bei den Pointen lächelte selbst der Gärtner, obwohl sie ihm meist geschmacklos und grob vorkamen: Er saß neben dem Erzähler und sollte mit ihm ein Doppelzimmer gerade in dieser Nacht teilen, was dem unschuldigen Mitschläfer allerlei Unannehmlichkeiten bereiten konnte. So wollte er ihm wenigstens diese Freude machen.
Der Gärtner war ein tiefgläubiger Mensch. In seinem Glauben lag auch seine Kraft: Weil er sich nur vor Gott fürchtete, hatte er vor niemandem auf der Welt Angst. Daß er dennoch nicht, nicht einmal für seinen Glauben, auf die Barrikaden ging, war keine Äußerung von Schwäche, sondern von Demut. Er hielt sich nicht für so wichtig, als daß er die Sorgen seiner Nächsten vermehren wollte, solange ihn niemand dazu zwang, seinen Glauben aufzugeben.
Er bedurfte dafür keiner sichtbaren Symbole, er war einfach ein Christ, das wußte er und mußte es nicht vorführen. Es fiel ihm also nicht schwer, die Besuche in der Ortskirche einzustellen, als ihn Věras Vater so dringend darum bat. Er hatte sich auch mit der standesamtlichen Trauung abgefunden. In allem war er der Sohn seiner Eltern, schlichte Gärtnersleute, die ihr Inneres Christus geweiht hatten und glaubten, ihm durch ein Leben in Wahrheit und Anstand besser zu dienen, als sich für ihn in der Arena von Löwen in Stücke reißen zu lassen.
Zu diesen zählte auch Věras Vater, und ein Christ in der Familie tat ihm geradezu weh. Nur daß er bei dem Ruf der Tochter nicht allzu wählerisch sein konnte. Daß sie zu guter Letzt noch einen so fleißigen und gutaussehenden Mann ergattern würde, war an sich schon ein Wunder, also versöhnte sich der Vater damit, daß er, Hauptmann der öffentlichen Sicherheit, einen Schwiegersohn aus einer bigotten, katholischen Sippschaft bekommen sollte. Er hat es von den Kameraden bei der Staatssicherheit erfahren, nachdem er ihn dort vorsichtshalber durchleuchten ließ; der künftige Eidam hatte zum Glück nicht einen einzigen Ritzer auf dem Kerbholz, was irgendwelche Aktivitäten betraf. Als er kam und um Věra anhielt, redete der Brautvater in Uniform mit ihm Klartext. Der junge Mann war so verknallt, daß er hoch und heilig versprach, sich von den Schwarzröcken fernzuhalten.
Heute wußte der Gärtner, daß er damals mehr versprochen hatte als nötig. Andeutungen seiner Umgebung entnahm er bald, daß fast jeder schon vor ihrer Hochzeit etwas mit Věra gehabt hatte. Doch ein Bestandteil seines Glaubens, so seine Überzeugung, war die Pflicht zu verzeihen, und zu den biblischen Geschichten, die ihn am meisten ergriffen haben, gehörte die von Maria Magdalena. Er mochte Věra, deshalb galt für ihn nur ihr gemeinsames Leben. Sie waren aber immer weniger zusammen, nachdem es sich ergeben hatte, daß sie keine Kinder bekommen würden, und sie wieder in das Büro der Baugenossenschaft zurückging. Mit der Zeit bekam er spitz, daß die «Prämien», die ihr Normalgehalt weit überstiegen, Belohnungen für Manipulationen der Wohnungszuteilungsliste darstellten, und er machte sich zunehmend Sorgen um sie.
«Und was ist dabei?» scherzte sie anfangs, «bei euch heißt es Ablaß, bei uns Schmiergeld, wenn man da anfangen würde, jemanden einzusperren, müßten längst alle sitzen. Außerdem ist mein Vater ein Bulle.»
Später fing sie an, ihn auf eine Art zu quälen, die ihn besonders traf.
«Eigentlich bist du ein Scheinheiliger», sagte sie, als sie sich gerade am heftigsten liebten, «anstatt zu beten, bumst du mich andauernd!»
Sie verursachte, mit Absicht, wie er heute glaubte, seine sich steigernde Unlust, sie zu umarmen. Sie war übrigens immer weniger zu Hause, die abendlichen «Baustellenkontrollen» wurden immer häufiger, was spinnst du? die Genossenschaftsmitglieder müssen tagsüber arbeiten! Auch Partys gab’s jetzt häufiger, wir müssen doch die Lieferanten motivieren! Er war bald überzeugt, daß sie ihn betrügt, doch vielmehr schmerzte ihn das Bewußtsein, daß sie ihn verabscheute. Auf der Leiter der Menschen, mit denen sie zu tun hatte, befand sich ein Gärtner auf der niedrigsten Sprosse, nicht einmal gut genug fürs Malochen: Beim Städtebau gab es für Grün weder Platz noch Geld.
Er litt darunter, und weil er in jenen Jahren auch die beiden Eltern verlor, blieb ihm außer Gott nur noch sein Beruf, und um so mehr hing er an ihm. Als Gärtner für das ehemals Rosenhainsche Schloß Klíčov gesucht wurden, ein verlorener Posten in den Wäldern, wohin niemand wollte, legte er sich ein Motorrad zu und nahm an; schon damals ging er gewissermaßen ins Exil.
Dort hat ihn an einem verregneten Samstag eine Besucherin angesprochen, die er wegen ihrer Kapuze nicht einmal richtig sehen konnte. Er wußte selbst nicht, warum er ihr versprach, am Sonntag die Hecke ihres nicht weit entfernt liegenden ehemaligen Bauernhauses zu stutzen. Er kam, schnitt und hörte dabei den ganzen Tag zu, wie sie Klavier spielte. Bei der Jause erklärte sie ihm knapp, sie halte sich bloß in Form, weil sie schon im vierten Jahr nicht auftreten dürfe. Das nahm ihn für sie ein, dazu entdeckte er bei sich ein Bedürfnis nach Musik, von dem er vorher keine Ahnung hatte. Als sie ihm sein Geld gab, fragte er scheu, ob er den Rest nicht ein anderes Mal erledigen könnte.
Heute nacht sollte er sich mit dieser Frau, die er vor einem Jahr noch nicht einmal kannte, gegen alle Gesetze versündigen; er war glücklich, daß sich kein göttliches darunter befand. Er war Věras Vater dankbar, daß er ihnen die kirchliche Heirat untersagt hatte. Seine einzige, aber um so schwerere Sorge bestand aus einem Hindernis, das er erst heute entdeckt hatte, obwohl er es hätte voraussehen können: Er verstand hier niemanden.
Als er vorhin das Zeichen auffing, daß es mit ihrer Freundin nicht geklappt hatte und somit seine Ersatzlösung dran war, traf ihn die Einsicht, daß seine Sprachunkenntnis ihm mehr zu schaffen machen würde als geahnt und er auch der zweiten Frau, die er je liebte, lästig fallen und sie verlieren könnte. Die vor ihm liegende Aufgabe war federleicht, überstieg aber trotzdem seine Kräfte. Es hat ihn so bedrückt, daß er seinen Nachbarn zuerst überhörte.
«Ich frage», wiederholte der Mensch, «schnarchst du bereits hier?»
«Nein, nein...»
Sie beide blieben allein am Tisch. Tschechen haben es sich schon längst abgewöhnt, die Nächte durchzumachen, denn der Tag war verdammt lang. Er schaute zu ihr hin. Offenbar hat sie nur darauf gewartet, denn sie stand sofort auf, das Mädchen folgte ihr. Der «Lektor» und der Fahrer versuchten vergeblich, sie zu überreden.
«Machen wir noch einen kleinen Gesundheitsbummel?» fragte den Gärtner sein Tischgenosse und stieß ihn freundlich an, «ein Bierchen vom Faß auf meine Rechnung?»
Ehe er abzulehnen vermochte, begriff er, daß ihm das sogar helfen könnte.
«Sprechen Sie Deutsch?» fragte er.
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