»Ich habe es dir doch schon hundertmal erklärt, Riley …«
»Ich weiß«, unterbrach er sie schnell. »Das hast du. Du hast gesagt, dass du Glück hattest, dem Camp entronnen zu sein, dass du dir aber nicht sicher sein kannst, ob Cyrus Hoyt wirklich tot ist. Mal abgesehen davon, dass man ihn beerdigt hat …«
»Auf dem Eternal Walk Cemetery «, sagte sie nickend. Das hatte sie über die Jahre hinweg bestimmt ein Dutzend Mal überprüft und sich bestätigen lassen. Aber es half dennoch nichts.
»Du wirst von dem Geist eines Wahnsinnigen verfolgt, den du aber umgebracht hast, meine Liebe. Forest Grove hat das Geschehene längst hinter sich gelassen, du aber nicht. Gäbe es einen besseren Weg, als in sich zu gehen, etwas Schmutz aufzuwühlen und aus deinem Unglück Profit zu schlagen? Das ist Amerika. Das macht hier jeder.«
»Ich werde nicht verfolgt«, antwortete Melanie wenig überzeugend. Riley hatte recht, aber es tat verdammt weh, es hören zu müssen.
Die Aussicht, in jene Gegend zurückzukehren, war alles andere als einladend. Es war dort vielleicht sicher, aber die Erinnerungen an alles, waren immer noch äußerst lebendig … an die helle Holzverkleidung in den Hütten … an das Graffiti in der Außentoilette, welches Wer an Toilettentüren schreibt, auch gern in die Hosen scheißt zu verkünden gewusst hatte … und das malerische Ufer des Sees mit seiner trügerischen Sicherheit.
Und dann waren da noch die Leichen. Jennifers Körper, aufgeknüpft in der Hütte der Mädchen. Ihr heißer, rosafarbener Victorias-Secret-BH war zerrissen und mit Blut bespritzt gewesen. Sie hatten das Ding ein paar Tage vor ihrem Aufbruch nach Forest Grove extra zusammen gekauft, weil Jen für die Jungs vom Land unbedingt hatte gut aussehen wollen. Bills Leiche, die durch das Fenster der Hütte geworfen worden war – Hoyts Versuch psychologischer Kriegsführung.
Schmerzhafte Erinnerungen, die sich extrem verstärken würden, wenn sie erst einmal zurück in Connecticut wäre.
Vielleicht hatte Riley ja recht damit, dass sie die Rolle des Opfers in Dauerschleife abspulte, aber wie sollte sie sich denn sonst benehmen? Es verging nun mal kein einziger Tag, an dem sie sich nicht fragte, was aus Jen geworden wäre. Denn dieses Mädchen hatte immer das bekommen, was sie wollte. Es war also keine Frage gewesen, ob sie es in die New Yorker Modewelt schaffen würde, sondern vielmehr nur wann.
Bill war gut aussehend und stark gewesen und hatte den dämlichsten Sinn für Humor besessen, der ihr je untergekommen war. Er war die Art von Typ gewesen, die einen zum Lachen brachte, selbst wenn man schon drauf und dran war, ihm eine reinzuhauen. Sie mochte es, sich hin und wieder ein Leben mit ihm vorzustellen, ein Vorstadtleben mit drei Kids … die Football-Termine des Ältesten zu koordinieren, damit er kein Spiel verpasste … kinderfreie Samstagabende … sonntags lange Ausschlafen und ein paar Drinks mit den Nachbarn nehmen.
Dinge, die das Leben eben so für einen bereithielt.
Eine Weile schien es so, als würde sie diese Dinge mit Reggie Nolan haben können. Ihrem Ex-Mann. Ein Football-Co-Trainer mit tief sitzenden Aggressionsproblemen, die mit seinen Unzulänglichkeiten zusammenhingen. Melanie hatte seine von Unflätigkeiten bestimmte Herangehensweise an das Coaching immer schon als relativ abstoßend empfunden, sich aber lange Zeit zurückgehalten, so wie Reggie seinen Missmut aus ihrer Beziehung herausgehalten hatte … bis zu dem Tag, an dem er genau das nicht mehr getan hatte.
Selbst jetzt fühlte sich Melanie noch verantwortlich für das Scheitern ihrer Ehe. Hätte sie einen anderen Weg gefunden, das Thema zur Sprache zu bringen, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen. Vielleicht hatte er ja etwas Besseres verdient, als eine mitternächtliche Tirade auf der Fahrt von einer Fakultätsfeier nach Hause – genau wie sie die Reaktion nicht verdient hatte, die sie damit provoziert hatte.
Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie ihr Kopf gegen die Fensterscheibe geknallt war, als er quer über die zweispurige Straße gedonnert, in eine Ausfahrt eingebogen war und ihr dann mit dem Handrücken einen Schlag versetzt hatte. Sie war noch nie zuvor eine Schlampe genannt worden, und das hatte sie irgendwie am meisten verletzt, auch wenn nach dem brutalen Schlag ihr gesamtes Gesicht geschmerzt hatte.
Melanie hatte direkt am nächsten Tag die Scheidung eingereicht, und Reggie war bereits verschwunden, als sie wieder nach Hause gekommen war. Für den Rest des Schuljahres hatte sie ihn nur noch ein paarmal gesehen, und im nächsten Jahr war er nicht mehr an die Schule zurückgekehrt. Vielleicht hatte man ihn auch darum gebeten. Für sie war nur wichtig, dass sie ihm nicht mehr hatte begegnen müssen. Sie war lieber allein, als ein Elend wie dieses erdulden zu müssen.
Riley strich ihr jetzt über die Oberseite ihrer Hand und holte sie damit sanft aus ihrem Tagtraum zurück. »Ich wollte nicht, dass du dich deswegen schlecht fühlst«, beteuerte er, »aber du bist viel zu umwerfend und brillant, um als Gefangene in deinem eigenen Haus zu leben. Du solltest ein neues Leben beginnen und dich nicht an das klammern, was man dir genommen hat.«
»Du weißt doch gar nicht, worum du mich da bittest.«
»Das stimmt«, sagte er. »Lassen wir das Thema jetzt. Aber bitte denke darüber nach. Du hast eine Geschichte zu erzählen und die Leute wollen sie hören. Erinnerst du dich noch an den Notarzt, der dich in jener Nacht behandelt hat?«
Das tat sie tatsächlich. Er lebte jetzt als Autor wahrer Kriminalfälle in Kalifornien. Riley hatte ja recht. Dennis Mortons Fuchtel entfliehen zu können sollte eigentlich Anreiz genug sein. Die Ereignisse jener langen Nacht im Camp Forest Grove aufzuschreiben, reizte sie allerdings nur bedingt, die Vorstellung, damit etwas gegen diesen Wurm in der Hand zu haben hingegen schon. Ganz besonders, falls das Buch tatsächlich ein Erfolg werden würde. Denn dann würde sie jede Schule mit Kusshand aufnehmen, und der Stiftungsrat würde Morton die Hölle heißmachen, damit er die berühmte Autorin des Ortes zufriedenstellte. Das war allerdings ein ziemlicher Ritt, nur um ihren Kurs halten zu können, und es ärgerte sie maßlos, ihn auf sich nehmen zu müssen.
»Kann ja vielleicht nicht schaden, noch mal darüber nachzudenken«, sagte sie deshalb.
***
Melanie verbrachte den Mittwoch verbarrikadiert in ihrem Büro, wo sie mit der Raserei einer akademischen Psychopathin Abschlussarbeiten korrigierte. Zwei Englischtests und zwei Wiederholungen zum Thema Einführung in den Journalismus in weniger als sechs Stunden, und danach noch mal zwei Stunden, um die Gesamtnoten zu bestimmen.
Die Gewissheit, von Dennis hintergangen worden zu sein, wuchs mit jeder Stunde. Normalerweise war es zu einem Teil seiner Endsemester-Masche geworden, für alle Professoren ansprechbar zu sein. Er wollte wissen, wie die Dinge liefen, ob es Probleme mit irgendwelchen Studenten oder eventuelle Streitigkeiten über die Benotung gab, um gegen aufgebrachte Eltern gewappnet zu sein. Doch heute war er nur ein Phantom und seine geschlossene Bürotür sprach Bände über die aktuelle Sachlage.
Riley hatte währenddessen unauffällig in Umlauf gebracht, dass man Melanie die Dissektion eines Epos entrissen hatte, was in einem Strom aus mitfühlenden Gesichtern in ihrem Büro resultierte. Viele Kollegen gaben ihr Zuspruch, was ihr das Gefühl vermittelte, gemocht und respektiert zu werden, auch wenn es an der Sache natürlich nichts änderte. Sie hatte das wichtigste Kapitel ihrer bisherigen Karriere verloren und ihr Boss hielt es offenbar nicht einmal für nötig, sie darüber zu informieren.
Als die letzte Note vergeben war, konnte sie keine weitere Sekunde mehr in diesem Büro verbringen. Um halb fünf galt Dennis immer noch als vermisst. Soweit es ihn betraf, musste er doch denken, dass Melanie immer noch annahm, den Kurs leiten zu dürfen. Es sei denn, er hatte damit gerechnet, dass Riley den Stundenplan gesehen und die Neuigkeiten ausposaunt hatte.
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