Deshalb lief sie mit einem Baseballschläger aus Aluminium in ihrer Hand in den Flur hinaus. Das Haus war dunkel und nur das Nachtlicht für die Katze leuchtete ihr den Weg. Ihre Füße waren in ein gedämpftes orangefarbenes Licht getaucht, als sie voranschritt und dabei auf der Innenseite ihrer Wangen kaute, um ruhig zu bleiben.
In jedem Zimmer, an dem sie vorbeikam, schaltete sie das Licht an. Als Erstes durchsuchte sie die Küche und die Badezimmer. Dann das Gästezimmer und das Büro, doch alle waren verlassen.
Krächzend erwachte die Alarmanlage erneut zum Leben: »Ms. Holden, ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
Sie zögerte noch, Entwarnung zu geben, denn die Verandatür der Küche stand tatsächlich einen spaltbreit offen … so als hätte jemand versucht, einzudringen, war aber von dem Alarm verscheucht worden.
Während die Zentrale es noch einmal versuchte, starrte sie die Tür an. »Ms. Holden, sollen wir die Polizei zu Ihnen schicken?«
Sie drückte die Tür ins Schloss und schob den Sicherheitsriegel vor. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie das Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Die Stimme des Alarms sprach weiter mit ihr, aber sie konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren.
War das etwa die Nacht, in der er sie endlich gefunden hatte? Doch es war niemand hier, und im Keller konnte sich auch niemand verstecken, da die Tür über einen eigenen Sensor verfügte. Wenn sie geöffnet worden wäre, hätte der Alarm es genauso wie bei der Verandatür mitgeteilt.
Die Sicherheitsfirma ließ nicht locker. Die Stimme verkündete nun, dass man die Polizei zu ihrer Adresse geschickt hatte. Sie hätte ihnen die Fahrt ersparen können, aber dafür fehlte ihr ehrlich gesagt die Zuversicht. Sie würde sich bestimmt besser fühlen, wenn sie hier nach dem Rechten sahen.
Sie brauchte diese Rückversicherung einfach.
Melanie fuhr sich mit der Hand durch ihre glatten blonden Haare und erinnerte sich daran, wie rot und lockig sie einmal gewesen waren. Sie hatte sie kurz nach den Ereignissen in Forest Grove gefärbt, in der Hoffnung, sich nicht mehr wie ein Opfer zu fühlen, wenn sie ihr Erscheinungsbild komplett änderte.
Sie trommelte mit ihren abgekauten Fingernägeln auf die Arbeitsplatte der Küche und zählte dabei die Minuten, bis die Polizei eintreffen würde. Das Gefühl, nirgendwo mehr wirklich sicher zu sein, war sowohl ärgerlich als auch angsteinflößend. Genau wie dieser Traum, den sie gerade geträumt hatte. Kein Wunder, dass sie jetzt dachte, Cyrus Hoyt wäre zurückgekehrt, um sein Werk zu vollenden.
Er ist tot!
Dieses Mantra hatte sie über Jahre hinweg immer wieder wiederholt. Aber in fünfundzwanzig Jahren hatte sie dennoch nie wirklich daran geglaubt. Ihr Psychiater bestand darauf, dass ihre anhaltenden Ängste aufgrund der Art und Weise, wie sie ihm entkommen war, vollkommen normal wären. Er versicherte ihr immer wieder, dass die Ermordung von Hoyt nötig gewesen war und sie sich deshalb keine Vorwürfe machen durfte. Das tat sie ja auch gar nicht. Das eigentliche Problem war, dass Melanie ihn nie wirklich hatte sterben sehen.
Als sie ihm damals einen letzten Blick zugeworfen hatte, als er zusammengeschlagen und blutig am Ufer des Lake Forest Grove gelegen hatte, hatte der Bastard noch geatmet.
Sie lief in ihr Zimmer zurück und griff nach ihrem Telefon. Es war jetzt 3:47 Uhr und an Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Lacey, die achtzehn Jahre alt und zur Hälfte Siam-, und zur anderen Hälfte Burmakatze war, stemmte sich auf ihre Vorderpfoten und versuchte die Lage einzuschätzen. Als sie sah, dass Melanie nicht mehr ins Bett zurückkam, steckte sie ihren Kopf wieder unter ihre Brust und schlief einfach weiter.
Du hast es gut, du kleiner Scheißer, dachte sie beinahe neidisch.
Sie brühte sich eine Tasse Kaffee auf, ließ sich damit in einen Sessel fallen und spielte mit ein paar neuen Apps auf ihrem Handy herum, während ihre Gedanken unweigerlich wieder ins Jahr 1988 zurückkehrten. Die Einzelheiten dieser Nacht spukten ihr noch immer durch den Kopf und ließen unzählige blutige Bilder wieder aufleben, denen sie nie wirklich entkommen war.
Zwanzig Minuten später traf die Polizei endlich ein und durchsuchte das Haus gründlich. Sie waren schnell und berichteten ihr von ein paar jugendlichen Gaunern, die in den Vorstädten immer wieder mal ihr Glück versuchten. Es war allerdings unwahrscheinlich, dass sie zurückkehren würden, da sie normalerweise direkt zum nächsten Zielobjekt weiterzogen, wenn es Schwierigkeiten gab. Doch all diese Beteuerungen erschienen ihr leer und beruhigten sie kaum.
Als das Haus durchsucht war und ihr Herzschlag sich ein bisschen beruhigt hatte, war es bereits kurz vor sieben Uhr morgens, und das bedeutete, dass in einer Stunde ihr Unterricht begann. Die Möchtegern-Einbrecher hatten keinerlei Spuren hinterlassen, aber es war ihnen definitiv gelungen, den Schließriegel zu knacken. Selbst die Polizeibeamten mussten zugeben, dass so etwas bei den üblichen kleinen Einbrüchen eher untypisch war. Mehr brauchte sie nicht zu hören und machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie direkt am Nachmittag noch weitere Schlösser an der Verandatür anbringen lassen würde.
Nach einer schnellen Dusche, kürzer als ihr lieb war, leerte sie eine Dose Fancy Feast auf Laceys violetten Teller, kraulte die Katze hinter den Ohren und schnappte sich ihre Lehrertasche. Die Katze miaute anerkennend, und Melanie verschwand durch die Tür.
***
Der Lehrerparkplatz war wie zu jeder Uhrzeit restlos überfüllt. Da vor acht Uhr keine Unterrichtsstunden begannen, hatte Melanie keine Ahnung, wieso ihre Kollegen immer schon so früh da waren. Aber einen guten Parkplatz zu bekommen hatte wahrscheinlich viel damit zu tun.
Sie fand einen freien Platz bei den Wagen der Schüler in einer Seitenstraße und parkte ihren kirschroten LaCrosse daneben. Ihr blieben jetzt nur noch fünf Minuten, um in die vierte Etage der Bibliothek zu gelangen, denn sonst würden die enthusiastischen Schüler schnell denken, dass sie an diesem Tag blau machen könnten.
Es war der letzte Unterrichtstag vor den Abschlussprüfungen, und Melanie konnte kaum erwarten, dass das Semester endlich endete. Die Tage, in denen sie Einführung in den Journalismus unterrichten musste, wären damit gezählt, und sie würde sie bestimmt nicht vermissen. Es war nie ihre Stärke gewesen, und sie hatte nicht vorgehabt, jungen Leuten beizubringen, wie man ein Klatschreporter wurde. Eigentlich hatte sie sich für eine Stelle im Fachbereich Englisch beworben, als eine der anderen Professorinnen krank geworden war. Die Krankheit hatte sich letzten Endes als Krebs herausgestellt, und sie hatte mit ansehen müssen, wie der Krebs einer Frau von sechsundfünfzig Jahren schrittweise das Leben ausgesaugt hatte, und das war alles andere als schön gewesen.
Melanie war nur vierzehn Jahre jünger und hatte nicht vor, in nächster Zeit noch einmal um ihr Leben kämpfen zu müssen.
Die Bibliothek des Campus war um diese Uhrzeit so gut wie leer. Eine der Studentinnen, die freiwillig in der Bibliothek aushalf, saß an der Rezeption und scrollte gerade durch ihren Instagram-Feed. Melanie ließ den Fahrstuhl links liegen und entschied sich stattdessen für die Treppen. Alles, was ihren Puls ankurbelte, kam ihr gerade gelegen, und wenn es auch nur für ein paar Sekunden war.
»Entschuldigt bitte die Verspätung«, rief sie, als sie den Klassenraum betrat. Ihre Schüler zeigten keine sichtbare Reaktion, doch eine unterschwellige Enttäuschung lag in der Luft, als sie ihre Tasche auf dem Tisch ablud und dahinter Platz nahm. Der Rock ihres Kostüms zog sich daraufhin eng um ihre Oberschenkel und bereitete ihr Unbehagen, als sie hastig die Anwesenheitsliste überprüfte.
Sie schloss ihre letzte Stunde mit einer Lektion aus der Bibel ab, und einige der Jugendlichen waren ehrlich erstaunt darüber, dass sie nicht einfach nur andere Personen oder Unternehmen beleidigen durften.
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