Nun fühlte sich Melanie noch angreifbarer als zuvor. Jeder Schlag ihres Paddels glich für sie dem lauten Ping eines Radars. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Hoyt sie hören würde. Ihre größte Chance bestand darin, ans Ufer zu gelangen und dann wegzulaufen. Der Killer war jetzt zwar verwundet, aber das würde ihn bestimmt nicht aufhalten, und wenn er erst mal herausgefunden hatte, dass sie in einem Kanu geflohen war, würde er bestimmt nicht lange raten müssen, wohin sie damit gefahren war.
Zumindest deswegen war der Nebel gut.
Sie beschloss, die Richtung ein wenig zu ändern und etwas nach rechts abzudrehen, damit sie den See diagonal überqueren konnte.
Plötzlich erblickte sie eines der anderen Kanus.
Das war doch unmöglich! Wie sollte es von allein soweit hinausgetrieben sein?
Dennoch schwamm es zu ihrer Rechten im Wasser, nur wenige Meter hinter ihr und kam näher.
Melanie tauchte das Paddel ins Wasser, doch das verirrte Kanu hielt weiterhin auf sie zu. Ihr Bizeps verkrampfte sich vor Anstrengung, trotzdem ruderte sie noch schneller.
Das leere Kanu stieß jetzt gegen ihres und sie fiel wegen des Aufpralls nach vorn. Das Ruder glitt ihr aus der Hand. Sie kreischte erschrocken auf. Mit beiden Händen griff sie ins Wasser und suchte danach, aber es war bereits versunken.
»Verdammt!«, schrie sie und überlegte kurz, den Rest des Weges hinüberzuschwimmen.
Doch dann explodierte plötzlich der Rumpf unter ihren Füßen.
Eine Seite des Kanus zersplitterte, als sich auf einmal eine Axt in den Boden grub. Melanie reagierte instinktiv und riss ihre Beine in die Luft, um dem Hieb zu entgehen. Das Boot füllte sich beinahe sofort mit Wasser, und Melanies Gewicht sorgte dafür, dass es kenterte und sie ins Wasser fiel … direkt in die Arme des Killers.
Beigegraue Arme schlangen sich um ihre Hüften und zogen sie unter Wasser.
Sie schrie panisch und verschluckte sich an dem Wasser, das in ihre Lungen schoss. Sie ruderte wild mit den Armen herum. Ihre Hand bekam irgendwann den unteren Rand der Schweißer-Maske zu fassen und riss sie ihm vom Kopf.
Sein bärenstarker Griff wurde daraufhin noch fester, die Maske fiel ihr aus der Hand und versank in der Finsternis. Er hielt ihr jetzt den Mund zu, was bedeutete, dass sie unweigerlich ersticken würde. Ihr Bauch und ihre Brust wurden jetzt unter erdrückenden Schmerzen ebenfalls zusammengepresst durch seine gewaltigen Unterarme. Sie spürte seine rauen und verunstalteten Gesichtszüge unter ihren Fingern, als sie sich verzweifelt aus seiner Umklammerung zu winden versuchte.
Vor lauter Verzweiflung rammte sie ihm schließlich ihren Daumen direkt ins Auge.
Er stieß ein schmatzendes, gellendes Jaulen aus und ließ sie los.
Melanie schwamm zur Wasseroberfläche hinauf und sog tief die Luft ein, kaum dass sie diese durchbrach. Dann schwamm sie hastig. Das Ufer war nicht mehr weit entfernt – nur noch drei Meter vielleicht – und sie schaffte es, sich an Land zu ziehen und wie ein Tier durch den Schlamm zu kriechen. Sie war zu schwach, um aufzustehen.
Ohne eine Waffe blieb ihr nichts weiter übrig, als zu hoffen, dass der Killer ihr nicht folgen würde … dass er verwundet genug war, um die Hetzjagd abzubrechen. Die Stadt war acht Kilometer entfernt, was bedeutete, dass sie nur eine Stunde brauchen würde, wenn sie es wieder auf die Beine schaffen würde.
Ich muss aufstehen!
In diesem Moment schossen zwei Hände aus dem Wasser, schlossen sich wie Schraubstöcke um ihre Knöchel und zogen sie zurück ins trübe Nass.
Ihren letzten Atemzug nutzte sie dafür, um zu schreien und einen Hilferuf auszustoßen. Eine seiner Hände ließ sie gerade lange genug los, um ihr einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzen zu können. Ihre Sicht verschwamm bereits, als sie ein weiterer Schlag traf, und dann noch einer – jeder davon begleitet von einem unmenschlichen Grunzen.
Sie trat verzweifelt mit ihrem freien Bein nach ihm, aber er wehrte den Tritt mühelos ab und zog sie weiter zu sich. Dann rollte Hoyt sie auf den Rücken, stieg aus dem schlammigen Wasser und fixierte sie mit einem Knie in ihrem Bauch auf ein paar losen Ästen, die am Ufer lagen. Eine weißliche Flüssigkeit tropfte aus seiner blutigen Augenhöhle und landete auf ihrer Wange, während er sie mit endlosen Schlägen traktierte und dabei wahnsinnig kicherte.
Ihre Hände krallten und kratzten nach seinem Gesicht, doch ohne Erfolg. Er stieß sie einfach beiseite. Seine Schläge wurden härter und schmerzten immer mehr.
Sie tat deshalb das Einzige, was sie noch tun konnte. Sie stieß sich vom Boden ab und schnappte mit ihren Zähnen nach seiner Nase. Eigentlich hatte sie seinen Hals treffen wollen, hatte seine Bewegungen aber falsch eingeschätzt. Ohne weiter darüber nachzudenken, biss sie mit einem wilden Knurren zu.
Ihre Zähne sanken in sein Fleisch und ihr Mund füllte sich mit dem Blut des Fremden. Unbeirrt presste sie ihre Kiefer zusammen und zermahlte den dünnen Steg aus Knorpel so leicht, als würde sie an einem Hühnerbein kauen. Die Nase zerbrach unter einem lauten Knacken und der Killer zuckte heulend zurück.
Er sackte in den Morast, kroch ein paar Schritte rückwärts und bedeckte dann mit den Händen sein Gesicht.
Melanie zog unauffällig einen der abgebrochenen Äste aus der feuchten Erde. Mit einem leisen Ploppen löste er sich aus dem Matsch und sie umklammerte ihn wie einen Baseballschläger.
Der Killer hatte gerade erst seine Hände von der Nase gelöst, als der Ast auch schon gegen seinen Kopf krachte und das Holz zersplittern ließ. Melanie holte sofort ein zweites Mal aus, und dann ein drittes Mal … solange, bis sein Gesicht wie Hackfleisch aussah. Der Ast traf sein Fleisch immer wieder mit einem feuchten Klatschen und Blut regnete auf das morastige Ufer. Schließlich sackte er mit einem letzten schwachen Seufzen aus seinem verstümmelten Mund zusammen und fiel vornüber.
Zufrieden, weil er sich nicht mehr rührte, taumelte Melanie davon.
Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit seit ihrer Flucht vergangen war, aber irgendwann wich das Dickicht einer Straße. Ihr Kopf war schwer und das Adrenalin, das ihr das Leben gerettet hatte, war so gut wie aufgebraucht.
Die Sohlen ihrer Sneaker schlurften über den Asphalt. Ihr Verstand war beinahe genauso erschöpft wie ihr Körper, und das Einzige, was sie noch antrieb, war der Gedanke daran, dass sie noch nicht weit genug von diesem Monster entfernt war.
Sie war sich sicher, dass jede Minute jemand vorbeigefahren kommen würde.
Doch aus einer Minute wurden viele. Erst zehn, dann zwanzig. Die Nacht war weiterhin still und die Straße leer, und ihre Gedanken wanderten unwillkürlich an hoffnungslose Orte. Sie war verloren und sie würde hier draußen sterben.
Eine wahre Explosion aus roten und blauen Lichtern ließ sie zusammenzucken, aber sie beruhigte sich sofort wieder, als sie erkannte, dass die Lichter zu einem Streifenwagen gehörten, der vor ihr angehalten hatte.
»Geht es Ihnen gut, junge Dame?«
Melanie brach zusammen und verfiel in ein unkontrolliertes Schluchzen. »Sie sind alle tot!«, rief sie weinend, als der Polizeibeamte auf sie zukam.
»Ist schon okay«, sagte er. »Ich bringe Sie erst einmal rüber zu meinem Wagen, und dann erzählen Sie mir ganz in Ruhe, was passiert ist.«
Und dann war sie gerettet … einfach so.
Melanie Holden erwachte vom Geräusch des Hausalarms. Erschrocken hob sie ihren Kopf vom Kissen. Eine Computerstimme warnte sie gerade, dass die Verandatür geöffnet worden war. Die Stimme wiederholte diese Worte mit einer nervtötenden Gleichgültigkeit, die ihr Kopfschmerzen bereitete.
Sie stieg aus dem Bett und wünschte sich, dass sie eine von diesen Stunden auf dem Schießstand besucht hätte. Die Vorstellung, eine Pistole zu besitzen, war abstoßend für sie. Nicht, dass sie generell etwas gegen Waffen hatte – was dieses Thema anging, war sie unentschlossen – aber sie traute sich einfach nicht zu, im Zweifelsfall verantwortungsvoll genug damit umgehen zu können.
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