1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 »Du solltest nicht sauer auf mich sein, Mel.«
Ihre Eröffnung war so unverblümt wie geradeaus und traf Melanie entsprechend unvorbereitet. Bevor sie ihre Überraschung verwunden hatte, war das Mädchen auch schon nicht mehr aufzuhalten.
»Dennis hat Dissektion eines Epos an mich vergeben, warum auch immer. Ich kann doch nichts dafür. Wieso begraben wir das Kriegsbeil also nicht einfach?«
Melanie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Ihr fehlten komplett die Worte, allerdings nicht etwa aus Feigheit, sondern vor Schock.
Jill plapperte währenddessen unaufgefordert weiter: »Die Kommission mochte meine Dissertation über die Griechischen Götter als Externalisierung menschlichen Verhaltens. Also tu nicht so, als hätte ich von dem Thema überhaupt keine Ahnung. Ich werde vor dir meinen Tenure bekommen, so einfach ist das, wegen meines frischen Blicks und ein paar neuen Ideen. Du wirst doch jetzt nicht für eine vergiftete Arbeitsatmosphäre sorgen wollen, oder?«
Der Drang, ihr einen Kinnhaken zu verpassen, wuchs stetig, aber Melanie schwieg eisern. Sie liefen jetzt den Rest des Weges schweigend nebeneinanderher, zumindest, bis sie das Gebäude verlassen hatten, denn dann fasste Jill sie an den Schultern.
»Jetzt hör mir mal zu, Mel«, begann sie. »Ich habe keinen Streit mit dir, und du willst ganz sicher auch keine Probleme mit mir bekommen. Es wäre also das Vernünftigste, wenn du mir das Curriculum, das du für den Kurs entwickelt hast, einfach aushändigst, damit ich nicht komplett bei null anfangen muss. Dann könnte ich Dennis auch berichten, dass du sehr kooperativ und hilfsbereit gewesen bist. Das käme den Studenten zugute, würde mir helfen und auch dir nützen, wenn das nächste Mal deine Festanstellung im Gespräch sein sollte.«
Melanie sah auf ihre Schultern hinab. Die Hände des Mädchens lagen immer noch auf ihr. Jill schien jetzt offenbar selbst davon überrascht zu sein, denn sie zog sie zurück, räusperte sich, und dann setzten die beiden ihren Weg fort.
Sie liefen bis zur Straßenecke, wo Melanie geparkt hatte. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz ihres Wagens und schlug dann die Tür sehr viel energischer zu, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Ohne ein weiteres Wort setzte sie sich anschließend hinter das Steuer und versuchte die Fahrertür zu schließen, doch Jill packte sie am oberen Türrahmen und zog sie wieder auf.
»Hast du mir denn gar nichts zu sagen?«
»Nein«, erwiderte Melanie. »Viel Glück mit dem Kurs, Jill. Denn du wirst ihn allein halten müssen.«
»Nun komm schon, Mel. Gib mir deine Aufzeichnungen. Das wird es für uns beide sehr viel leichter machen.«
»Ich bin äußerst neugierig, wie du die Sache meistern willst, denn ich werde dir garantiert nicht helfen. Es ist meine Arbeit, und ich werde die Aufzeichnungen nutzen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
»Deine Zeit ist bereits gekommen … und wieder verstrichen. Dafür kannst du niemand anderen verantwortlich als dich selbst. Du solltest mal besser langsam die Verantwortung für deine Fehler übernehmen, du blöde Schlampe.«
Melanie lächelte nur. Sie fand, dass ihre fragwürdige Entscheidung mittlerweile durchaus berechtigt war. »Das werde ich«, sagte sie. Sie konnte es nun kaum noch erwarten, endlich aus dieser Stadt zu verschwinden.
Bis nach Forest Grove waren es vier Stunden Fahrt.
Melanie nahm die I-290 über Worcester, bis diese zur I-84 wurde.
Doch je mehr ihre Rückkehr dorthin Realität wurde, desto mehr wuchs in ihr das Gefühl, einen ungeheuren Fehler zu begehen.
Sie vermisste Lacey. Die Katze blieb solange bei Riley und deren Ehemann, trotz der Allergie, unter der Aaron litt. Der alten Dame würde es wohl kaum etwas ausmachen, umzuziehen. Ihre Zuneigung war nämlich durchaus käuflich, solange es einen warmen Schoß gab, in dem sie sich einrollen konnte. Cyrus Hoyt konnte bei Melanie einbrechen und ihr ein Bowiemesser in den Schädel rammen … solange er dabei eine Dose Friskies öffnete, würde es die Katze kein Stück kümmern.
Die Rastlosigkeit des Stadtlebens mit dem oft unnötigen Verkehr, den hektischen Spurwechseln und dem grundlosen Hupen wich nach und nach einem ländlichen Stillleben mit vereinzelten Häusern, sporadischen Fahrzeugen und hin und wieder auch mal einem Geschäft. Das Grauen, das es für sie mit sich brachte, war allerdings unausweichlich.
Melanie hasste den Sommer, denn seine unvermeidliche jährliche Wiederkehr ließ jedes Jahr aufs Neue die bange Frage in ihr aufsteigen: Wird er dieses Jahr zurückkehren und es zu Ende bringen? Aktivitäten im Freien und bei mildem Wetter übten daher keinerlei Anziehungskraft auf sie aus und sie zog überfüllte Gehsteige jederzeit Wanderwegen als Ausflugsziel vor.
Als Teenager war ihr die Stadt Forest Grove noch viel weiter entfernt vorgekommen. Es war ein abgelegener Ort, versteckt vor der restlichen Welt, dessen Bewohner unsagbaren Gräueltaten ausgeliefert gewesen waren und Rettung von außerhalb unmöglich gewesen war, und genau dieser Ort rückte nun mit jedem verstreichenden Kilometer immer näher.
Eine kurvige Abfahrt vom Highway führte sie direkt auf eine überwucherte Landstraße voller Schlaglöcher. Sie kam jetzt an einer zusammengefallenen Scheune vorüber, die nur wenige Meter neben der Straße stand. Ein Haufen zerbrochener Balken war alles, was noch von ihr noch übrig war. Ein uralter Pick-up-Truck, dessen Ladefläche voller Hühnerkäfige war, kam ihr aus der anderen Richtung entgegen getuckert und hupte ohne ersichtlichen Grund.
Vielleicht war das ja ihr persönliches Empfangskomitee.
Melanie versuchte sich den Haufen Geld vorzustellen, den ihr der Verlag sozusagen als Wiedergutmachung für ihr wachsendes Unbehagen angeboten hatte. Es erschien ihr immer noch unglaublich, dass jemand wirklich an ihrer Geschichte interessiert sein könnte. Wer erinnerte sich schließlich nach all den Jahren schon noch an Forest Grove, außer denen, deren Leben dieses Ereignis für immer verändert hatte?
Die Stadt selbst erinnerte sich aber offenbar noch sehr gut an alles, denn die Reaktion auf Hoyts Massaker war regelrecht bizarr gewesen. Nach den Morden hatte sich der Stadtrat zusammengefunden und beschlossen, jegliche Aktivitäten, bei denen sich größere Gruppen von Kindern oder Jugendlichen zusammenfinden würden, mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Tanzveranstaltungen waren seitdem tabu, Partys wurden mit heftigen Strafen geahndet, und Sportveranstaltungen wurden überwacht wie seinerzeit in Berlin, hinter dem Eisernen Vorhang.
Der Gedanke daran, dass ein Ereignis, in das sie selbst involviert gewesen war, zu einer Art Gestapo-Polizeistaat in dieser Stadt geführt hatte, war einfach unvorstellbar für sie. Nach allem, was sie bislang gehört hatte, hatte sich das heutige Forest Grove nur wenig verändert. Es war immer noch die gleiche Kleinstadt und erinnerte an die aus Footloose , nur auf Steroiden.
Was ihr an der Übereinkunft mit dem Verlag ganz besonders nicht gefiel, war, dass diese darauf beharrten, dass sie diesen Trip dazu nutzen sollte, die Werbetrommel für das Buch zu rühren. Sie wollten sogar einen Tag mit einem professionellen Fotografen arrangieren, um ein paar authentische Werbefotos schießen zu können, und allein der Gedanke daran, sorgte dafür, dass sie sich ganz schmutzig fühlte.
Alles an dieser Sache klang so ungeheuer wichtigtuerisch, und Melanie hatte es schon immer gehasst, im Scheinwerferlicht zu stehen. Dass sie nach Forest Grove zurückkehren musste, war schon schlimm genug, aber diese furchtbare Sache auch noch zu vermarkten? Es war einfach nicht in Ordnung, den Tod von Jennifer und Bill – oder der restlichen Opfer – nun für Werbezwecke auszuschlachten. All diese Menschen hatten Besseres verdient. Melanie hatte immer darauf beharrt, dass ihre Memoiren das Andenken an diese Personen ehren sollte, aber dann hatte ihr Bedürfnis, es Dennis heimzuzahlen, irgendwie die Oberhand über ihre Wertvorstellungen und ihre geistige Gesundheit gewonnen.
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