Zieh einfach den Kopf ein, wenn sie angekommen ist. Entschuldige dich für deinen seltsamen Auftritt und sieh zu, was du sonst noch tun kannst, dachte er. Nur so kriegst du Melanie Holden dazu, Forest Grove halbwegs gut wegkommen zu lassen.
»Verdammt«, murmelte er und dachte unweigerlich an den Berg von Arbeit, der noch vor ihm lag. Trish würde früher oder später wahrscheinlich selbst darauf kommen, dass heute keiner der Tage war, an dem er früher nach Hause kommen würde. Im Moment war er nun mal im Revier am besten aufgehoben. Während er fuhr, knirschte er mit den Zähnen. Dort warteten immerhin zwei idiotische Officer auf ihn, denen er gehörig den Marsch blasen musste.
***
Trish Brady las die Nachricht und versuchte nicht allzu enttäuscht zu sein: Klappt leider nicht. Komme später. Die Pflicht ruft. Und Anrufe. Jede Menge Anrufe …
Wieder mal ein Tag allein, dachte sie resignierend und verstaute das gefrorene Hühnchen wieder im Gefrierfach.
So langsam fühlte sie sich wie in den Highschool-Sommertagen ihrer Teenagerzeit. Warten, bis ihr Freund von der Arbeit kam, und sich die Zeit mit etwas Gras und einem Film vertreiben, den die Videothek nicht als moralisch fragwürdig eingestuft hatte. Die Experten der Stadt hatten nämlich die meisten gewalttätigen oder sexuellen Filme aus den Regalen verbannt, schienen aber offenbar nicht zu verstehen, wie abgefuckt Kinderfilme in den Achtzigerjahren gewesen waren. Trish war der Meinung, dass Garbage Pail Kids: The Movie deutlich mehr Schaden bei ihr angerichtet hatte, als jeder Horrorstreifen es hätte tun können – und dafür war sie dankbar. Denn selbst die kleinsten Dinge, wie einen Film auszuleihen, kamen einem an einem Ort wie diesem, wo so schnell über alles geurteilt wurde, wie ein Akt der Rebellion vor.
Damals hatte man ansonsten nicht viel hier tun können, und daran hatte sich bis heute nur wenig geändert. Sie bedauerte die Kinder von Forest Grove, die das Pech hatten, in diesem erdrückenden Umfeld aufzuwachsen, aber wenigstens hatten sie es ein kleines bisschen besser als sie damals. Denn das Internet hatte die Welt zusammenrücken lassen und den Bauerntrampeln hier fehlte zum Glück das nötige Know-how , es zu zensieren.
Zu ihrer Zeit – bei dem Gedanken daran musste sie unweigerlich lachen, weil sie sich mit dreißig schon wie eine Seniorin anhörte – hatten die Bibliotheken die Bücher von F. Scott Fitzgerald und George Orwell zerstört und sich geweigert, Richard Matheson ins Programm aufzunehmen, weil sie fürchteten, dass solche Literatur ein weiteres Sommer-Camp-Massaker auslösen könnte. Trish hatte drei Jahrzehnte ohne einen Tanzabend verbringen müssen, weil die Bewohner hier der Ansicht waren, dass so etwas Ausschweifungen fördern würde. Aus ihrer Sicht bettelte man Cyrus Hoyt damit regelrecht darum an, wieder zuzuschlagen.
Alles hier war so verdammt puritanisch.
Hätte man Trish Brady vor ein paar Jahren vor die Wahl gestellt, ob sie ihr Leben lieber in Forest Grove verbringen oder vorzeitig ins Grab steigen wolle, hätte sie sich wohl als Erste für eine Fahrt über den Styx vorgedrängelt. Die Leute, die hier lebten, lebten nämlich nicht wirklich. Wenigstens nicht nach ihren Maßstäben. Deshalb war sie, so schnell sie konnte, von hier weggezogen.
Aber Liebe lässt einen offenbar die verrücktesten Dinge tun …
Als sie vorhin in den Keller gegangen war, um das Essen für heute Abend aus dem Gefrierschrank zu nehmen, hatte sie sich dabei ertappt, das Meer aus noch ungeöffneten Umzugskartons anzustarren. Sie lebten nun schon seit vier Monaten in Forest Grove, aber sie hatte es immer noch nicht über sich gebracht, hier heimisch zu werden. Der Moment, wenn sie diese letzten Kisten auspackte, wäre ihr Eingeständnis, diesen Ort als ihr Grab anzuerkennen. Sie zog es vor, Forest Grove lieber nur als Zwischenstopp anzusehen, auch wenn das nicht sonderlich realistisch war. Doch sie hatte nachgegeben und eingewilligt, hierher zurückzukehren, und nun war es Nates Entscheidung.
Das Abendessen war für heute also gestrichen, das Auspacken konnte gern noch einen Monat oder auch sechs warten. Sie lief deshalb wieder nach oben, ohne das Gefühl abschütteln zu können, nur wenig mehr als ein Zootier zu sein. Das Haus war aufgeräumt – was das Mindeste war, da Nate den ganzen Tag arbeitete (und meist auch die Nächte), aber sie sträubte sich trotzdem, als Hausfrau abgestempelt zu werden. Das Problem war nur, dass es ansonsten einfach nichts zu tun gab. Man konnte noch nicht einmal mit dem Auto und aufgedrehtem Radio eine Runde drehen, ohne damit irgendjemandem in dieser Stadt auf den Schlips zu treten.
An ihrem ersten Tag, als sie wieder hierher zurückgekehrt war, hatte sie ein wenig geputzt und dabei laut Black Flag gehört. Nate war noch nicht einmal eine halbe Stunde weg gewesen, als sein Streifenwagen wieder in die Einfahrt gebogen war. Die erste Amtshandlung des frischgebackenen Polizeichefs der Stadt war es gewesen, eine Beschwerde wegen Ruhestörung in seinem eigenen Haus nachzugehen. Denn nicht einer, sondern gleich drei ihrer neuen Nachbarn hatten in der Wache angerufen, um sich wegen des unheiligen Krachs zu beschweren.
So viel zum guten ersten Eindruck.
Trish rannte jetzt die Kellertreppe hinauf, die ins Esszimmer führte. Ihr Vater saß wartend am Tisch.
»Ich schwöre, du hörst sogar noch schlechter als ich, Mädchen«, sagte er. »Ich rufe hier oben die ganze Zeit nach dir und du reagierst überhaupt nicht. Ich habe dir ja gesagt, dass dieser Lärm, den du andauernd hörst, dir irgendwann noch die Trommelfelle kaputtmachen wird.«
»Was für ein großartiger Moment für eine Moralpredigt, Daddy«, spöttelte sie. Sosehr sie ihn auch liebte … so nah bei ihm zu leben, war ein absolutes Desaster, denn er hatte die Angewohnheit, sie immer noch wie ein kleines Kind zu behandeln und sprach stets etwas herablassend mit ihr. Außerdem hatte sie sich erschrocken, ihn so unverhofft in ihrem Haus vorzufinden. Ihr Dad vertrat nämlich die Einstellung, dass es sein gutes Recht war, sich überall in Forest Grove aufzuhalten, wo es ihm gerade beliebte, und ganz besonders gern im Haus seiner Tochter.
»Ich bin nicht wegen einer Moralpredigt hier. Ich kam eigentlich nur, um mal nach dir zu sehen.«
»Ich brauche niemanden, der mich kontrolliert. Mir geht es gut.«
»Das, was gestern passiert ist, war alles andere als gut«, antwortete er. »Herrgott noch mal, du hast mich halb zu Tode erschreckt. Ich bin noch nicht bereit, die einzige andere Frau in meinem Leben zu verlieren, weißt du?«
»Beruhige dich bitte«, sagte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Stirn zu küssen. Er stank nach Zigarren und Bier, dabei war es erst kurz nach Mittag.
»Ich beruhige mich erst dann wieder, wenn ich weiß, dass es dir gut geht.«
»Was willst du denn von mir hören? Ich war im Wald spazieren, und du führst dich auf, als hätte ich eine Orgie gefeiert.«
»Du bist ohnmächtig geworden.« Er musste ihre Verwirrung bemerkt haben, denn er verstummte für eine Sekunde, um seinen Vortrag umzuformulieren, und holte dann tief Luft, nachdem er leise geseufzt hatte. »Sag mir einfach, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Du triffst leider nicht immer unbedingt die besten Entscheidungen …«
»Ha, das muss ich wohl von dir haben! Du willst mir einen Vortrag über Entscheidungen halten, nach dem, was mit Mom passiert ist? Lass den Quatsch lieber und frag mich einfach, ob ich wieder was einwerfe, Dad. Darauf willst du doch hinaus, oder?«
»Mir fällt nun mal kein anderer Grund ein, wieso du beim Spazierengehen einfach so das Bewusstsein verlieren solltest.«
Trish auch nicht – und genau das war das Problem. Sie war gestern eigentlich zu den Waldwegen rund um den Lake Forest Grove hinausgefahren, um etwas Ruhe zu finden. Den Wäldern haftete zwar ein schlechter Ruf an, der so weit zurückreichte, wie sie sich erinnern konnte, aber ihre persönlichen Assoziationen zu ihm waren durchweg positiv. Während ihrer Abschlusszeit 2002 war er ein Ort gewesen, an den man flüchten konnte, um sich der Unterdrückung der Stadt zu entziehen. Unter dem Dach der Baumkronen hatten sie etwas Dope geraucht, Musik gehört und ja … auch ihre Unschuld verloren.
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