Aber was erwartete sie von einer Stadt, die es vorgezogen hatte, ihn mit Lagerfeuergeschichten unsterblich zu machen, anstatt aktiv etwas gegen ihn zu unternehmen? Natürlich würden die Einheimischen sie einzig und allein als Nutznießerin des Ganzen ansehen.
Es machte sie so unglaublich wütend zu wissen, dass die Leute in diese Stadt so von ihr dachten. Wenn es Melanie tatsächlich nur darum gegangen wäre, Geld aus der Sache zu schlagen, hätte sie doch schon vor Jahren ein Buch darüber schreiben können. Damals, 1989, war sie sogar zu Oprah eingeladen worden, aber zu dieser Zeit war es ihr am schlechtesten gegangen. Sie hatte schlaflose Nächte verbrachten, Bilder schmutziger Schweißer-Hauben, hatten sich in ihren Verstand gegraben und unkontrollierbare hysterische Anfälle ausgelöst. Das Überlebenden-Syndrom. Es hatte unzählige Therapiesitzungen gegeben und immer wieder Aufenthalte in einer Anstalt.
Damals hatte sie einfach nur verzweifelt versucht, das alles zu vergessen, und das versuchte sie auch heute noch. Der Drang, es Dennis Morton so richtig zu zeigen, bildete allerdings nun ein dramatisches Gegengewicht zu den Jahrzehnten der Angst. Ihre Karriere war in all den Jahren ihre einzige Ablenkung gewesen. Sie hatte ihre Tage mit Gedanken und Sorgen angefüllt, anstelle der Geister ermordeter Freunde und irrer Killer. Doch jetzt würde sie verbissen darum kämpfen müssen, nicht den Verstand zu verlieren.
Laut ihrem GPS lag Forest Grove nur noch zehn Kilometer weit entfernt … zu nah, um jetzt noch umzukehren. Sie schluckte schwer und trat wieder aufs Gas – entschlossen, das Ganze zu Ende zu bringen.
***
Nate sah, wie der Buick LaCrosse davonfuhr.
Wenigstens fährt sie einen amerikanischen Wagen, dachte er.
Dabei gab es gar keinen wirklichen Grund, so gehässig zu sein. In Melanie Holdens Leben hatte sich eine Tragödie ereignet, keine Frage, aber sie selbst hatte zugelassen, von etwas definiert zu werden, das bereits unglaublich viele Sommer zurücklag. Ihre Ängstlichkeit und ihre bebende Stimme, wenn sie sprach, offenbarte, dass sie eine Frau war, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Manchmal musste man sein Schicksal eben einfach akzeptieren und den Ballast abwerfen.
Aber wahrscheinlich war das leichter gesagt als getan, wenn man durch so eine Hölle gehen musste, wie dieses arme Mädchen sie hatte erleiden müssen. Er hatte bei seiner Arbeit schon Menschen erlebt, die von sehr viel weniger schlimmen Ereignissen traumatisiert worden waren.
Nate griff jetzt nach dem schmalen Walkie-Talkie neben seiner kleinen Computerkonsole, schaltete es auf die Wagen-zu-Wagen-Frequenz, hielt aber überraschend inne, als er eine Unterhaltung mithören konnte.
»Ich habe erst heute Morgen mit Lloyd gesprochen. Er hat gesagt, dass wir vollen Happy-Hour-Rabatt aufs Bier bekommen. Alles, was wir dafür tun müssen, ist, diesen beschissenen Mietern auf der anderen Straßenseite seines Hauses zu sagen, dass sie nachts ihre gottverdammten Fressen zu halten haben.«
Diese Stimme gehörte eindeutig Alex Johnson, seinem jüngsten Kollegen. Nate konnte es kaum erwarten zu hören, mit wem er da gerade sprach.
»Hab ich schon zweimal versucht. Diese elende Schlampe sitzt einfach nur auf ihrer überdachten Terrasse, säuft literweise Budweiser, zieht sich eine Newport nach der anderen rein und beschimpft lautstark ihre Kinder übers Telefon. Ich schätze mal, wir werden sie ein wenig härter rannehmen müssen, damit Lloyd uns einen großzügigen Rabatt auf ein paar kühle Blonde gibt. Ach verdammt, ich würde sie sogar einsperren, wenn Lloyd noch ein paar Buffalo-Wings drauflegt.«
Das war Sergeant Steve Maylam. Was für eine Enttäuschung. Er war die Art von Kerl, die immer auf besten Freund machte, wenn man sich im selben Raum mit ihm befand, aber offenbar auch die Art von Kerl, die glaubte, dass man die Dienstmarke nur trug, um sich damit irgendwelche Sonderkonditionen erschleichen zu können. Als Nate diesen Job angenommen hatte, hatte er gewusst, dass es schwierig werden könnte. Genaugenommen wäre nämlich Maylam an der Reihe gewesen, den alten Chief abzulösen, aber das bedeutete andererseits auch, dass dieser es eigentlich besser wissen müsste, anstatt sich wie ein blutiger Anfänger im ersten Jahr aufzuführen.
Nates persönliches Handy brummte nun auf dem Armaturenbrett, doch er ignorierte es.
»Ich mag die Art, wie du denkst.« Johnson lachte. »Wir werden uns in den nächsten Monaten schon was ausdenken. Ich will meine Sonntage nämlich in Lloyds Bar verbringen, sobald die Pats wieder spielen und wenn ich das tun kann, ohne dass dabei die Hälfte meines Gehaltschecks draufgeht, umso besser.«
Nates Faust schloss sich noch fester um das Funkgerät, als er sagte: »Ich würde nicht damit rechnen, viel von der Saison mitzubekommen. Sie werden nicht nur keine Extra-Gefallen für Lloyd Henderson tun, sondern haben sich gerade sämtliche Sonntagnachmittagsschichten eingehandelt, und zwar wirksam ab dem 1. September. Was glauben Sie eigentlich, welchen Eindruck das macht, wenn sich zufällig ein Zivilist auf diese Frequenz verirrt hätte und Ihre kleine Unterhaltung mitgehört hätte?«
»Es tut mir leid, Chief«, antwortete Johnson schnell und entschuldigend. »Ich weiß, das muss sich nicht gut angehört haben, aber …«
»Es klang furchtbar, Officer. Wir besprechen das Ganze, wenn ich wieder in der Stadt bin.«
»Ja, Sir.«
Maylam hingegen schwieg und stahl sich einfach so aus dem Gespräch.
Nate ließ das Funkgerät auf den leeren Sitz neben sich fallen und warf jetzt einen Blick auf die eingegangene Textnachricht auf seinem Handy. Trish wollte wissen, ob er zum Abendessen zu Hause sein würde. Stöhnend warf er das Handy beiseite. Nicht, dass er seine Frau nicht liebte und anbetete, aber wieso zur Hölle war sie immer so engstirnig, wenn es darum ging, zu verstehen, wie die Dinge laufen mussten?
Er hatte sich noch immer nicht an seine Arbeit in Forest Grove gewöhnt, und die Ankunft von Miss Bestseller verkomplizierte die Dinge nur noch mehr. Es war ein Balanceakt. Auf der einen Seite musste er dem Ort beweisen, dass er ein würdiger Nachfolger ihres geliebten Ronald Sleightons war, doch auf der anderen Seite musste er auch die Frau zufriedenstellen, die möglicherweise die Reputation dieser Stadt ein zweites Mal in den Dreck ziehen konnte.
Schuldgefühle nagten an ihm, als er einen Gang einlegte und zurück in die Stadt fuhr. Trishs Frage würde so lange unbeantwortet bleiben müssen, bis er es selbst wusste.
Herrgott , dachte er. Einer dieser Jungs hätte das Empfangskomitee bilden und Miss Holden in Desirees Bed & Breakfast begrüßen sollen, aber nach der Nummer, die er gerade zufällig mitangehört hatte, war er sich nicht mehr sicher, wem von beiden er überhaupt noch vertrauen konnte. Trish ermahnte ihn stets, dass er autoritärer auftreten müsse, so wie ihr Vater. Das waren durchaus wahre Worte, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Dinge nun mal nur dann glattliefen, wenn er sie selbst erledigte.
Nate tat sich deshalb äußerst schwer damit, Aufgaben zu delegieren, selbst, als er noch ein Sergeant Detective gewesen war. Auch da waren bereits Männer seinem Kommando unterstellt, aber er hatte stets den Drang verspürt, sich selbst um alles zu kümmern.
Und heutzutage war das nicht anders. Am liebsten wäre er selbst zu Desirees gefahren, aber er sah ein, dass das nicht funktionieren würde … nicht, nachdem er Miss Holden so verunsichert hatte. Andererseits durfte er auch nicht zulassen, dass sie Forest Grove in ihrem Buch schlechtmachte, das hatte der Bürgermeister ihm sehr deutlich gemacht. Nate hatte keine Ahnung, weshalb es gerade ihm zufiel, der Frau einen möglichst positiven Eindruck der Stadt zu vermitteln, aber es stand ihm nicht zu, an der Entscheidung des Bürgermeisters zu zweifeln. Nicht, nachdem dieser so entgegenkommend gewesen war, ihm zu seiner jetzigen Position zu verhelfen.
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