In jener Nacht, als sie ihre an Chase Prescott verloren hatte, hatte sie den Drang unterdrücken müssen, die Stadthalle mit einem aussagekräftigen Graffiti zu schmücken. Der Gedanke an die rebellische Kritzelei, die ihr damals vorgeschwebt hatte, brachte sie jetzt unwillkürlich immer noch zum Lachen: Ich hab gepoppt, ohne geköpft zu werden! Fick dich, Cyrus Hoyt! Chase hatte sie angefleht, sich das Ganze noch einmal zu überlegen, denn er wollte sein Stipendium nicht wegen eines solchen Unsinns verlieren. Er war schon so gut wie aus der Stadt verschwunden und hatte nie wieder zurückkehren wollen. Sie hatte eingewilligt, es sein zu lassen, aber eher deshalb, um ihrem Vater die mögliche Peinlichkeit und ihrem Fickfreund, den sie ohnehin nicht besonders mochte, den Ärger zu ersparen. Ihre Beziehung war rein körperlicher Natur gewesen, und es in dieser Nacht mit ihm zu treiben, hatte sich für sie wie die letzte Gelegenheit angefühlt, gegen einen Ort zu rebellieren, der alles in seiner Macht Stehende tat, ihre Hormone zu ersticken.
Das alles bedeutete der Wald für sie. Es hatte nichts mit den unglücklichen Morden zu tun oder was auch immer sich davor noch alles darin ereignet hatte. Irgendetwas war hier passiert, lange bevor sie überhaupt geboren worden war, aber selbst Dad sprach nur flüsternd darüber und nie in ihrer Gegenwart. Aber das alles spielte keine Rolle, denn nun war Forest Grove zu einer Stadt geworden, die Kinder davon abhalten wollte, Kinder zu sein. Neugier und künstlerischer Ausdruck waren hier verpönt und schufen so eine Gemeinschaft, aus der Highschool-Abgänger eiligst flohen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekamen. Jene, die blieben – und Trish hatte nur sehr wenige aus ihrer alten Klasse wiedergetroffen – erinnerten sie unweigerlich an die Zombiefrauen aus Stepford.
Es war richtig von mir, abzuhauen.
Deshalb hatte sie gestern die Nostalgie übermannt. Sie war in den Wald hinausgefahren und ihren Erinnerungen gefolgt. Jedes kleine Stück, das ihr wieder in den Sinn gekommen war, hatte sich angefühlt, als hätte sie einen alten Freund wiedergetroffen. Das war der erste Tag seit ihrer Rückkehr gewesen, an dem sie wieder richtig glücklich gewesen war … und dann war ihr plötzlich schwarz vor Augen geworden und sie war auf dem Weg zusammengebrochen. Alkohol war nicht im Spiel gewesen, denn sie hatte seit Jahren nichts Hochprozentiges mehr angerührt, weshalb dieses Erlebnis sie selbst am meisten verwirrte.
Zwei Teenager hatten sie irgendwann gefunden. Sie waren anscheinend auf der Suche nach den gleichen Erfahrungen gewesen, die Trishs Highschool-Jahre definiert hatten, und waren so nervös gewesen, als sie nicht aufwachte, dass sie schließlich einen Krankenwagen gerufen hatten.
Ihr Dad und Nate hatten keine Zeit verschwendet und sie sofort mit Fragen bombardiert, als sie Trish im Krankenhaus besucht hatten. Aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Ihre alte Drogenvergangenheit war natürlich das Hauptthema gewesen, aber sie bestand beharrlich darauf, dass sie nichts genommen hatte. Die beiden Männer tänzelten die ganze Zeit um das Thema herum, während Trish an ihren Blicken erkannte, dass sie sie verdächtigten. Von ihrem Dad hatte sie nichts anderes erwartet, aber Nates Zweifel zu sehen, versetzte ihr einen Stich ins Herz.
»Deine Bedenken sind zur Kenntnis genommen worden, Dad. Danke, dass du vorbeigekommen bist.« Es war dringend an der Zeit, das Verhör zu beenden und ihn irgendwie aus dem Haus zu bekommen. Lieber würde sie weiter Kisten auspacken.
»Warte eine Sekunde«, sagte er hastig. »Du weißt, dass ich froh bin, dich wieder bei mir zu haben. Es war nicht leicht für mich, zuzusehen, wie mein kleines Mädchen überhastet die Stadt verlässt. Du hast gesagt, dass du mich besuchen würdest, aber wie oft haben wir uns danach gesehen? An ein oder zwei Feiertagen im Jahr?«
»Nate und ich haben immer versucht, dich zu uns in die Stadt zu holen«, widersprach Trish. »Und als wir es einmal geschafft haben …«
Ihr Dad verdrehte die Augen. »Ich hasse diesen Ort. Weißt du, was New York City wirklich ist? Eine Stadt voller Arschlöcher, die ganz eilig nirgendwohin müssen.«
Sie lachte und hasste sich sofort dafür, denn es bedeutete, dass sie ihn vom Haken ließ. Vielleicht war das aber auch in Ordnung so. Der alte Mann hatte sein Bestes getan, einen kleinen Satansbraten aufzuziehen, und jetzt, wo er nicht mehr länger der Polizeichef war, gab es niemanden mehr, um den er sich kümmern konnte außer seiner Tochter.
Du Glückliche.
Der pensionierte Ron Sleighton bot einen verlotterten Anblick und war kaum wiederzuerkennen, wenn sie ihn mit Bildern aus ihrer Erinnerung verglich. Sein Rücken war krumm wie eine Sinuskurve und mehrere Tage alte Bartstoppeln wuchsen aus seinen rosafarbenen Hängebacken. Sein Hawaiihemd war falsch zugeknöpft und er zog ständig an seinen zu engen Shorts. Von dem beinahe militanten Staatsdiener, der über ihre prägenden Jahre gewacht hatte, war nur noch ein Schatten zurückgeblieben, der von der erst jüngst eingeführten Krankenversicherung profitierte.
»Wir müssen doch nicht schon wieder mit alledem anfangen. Im Herzen bin ich ein Großstadtmädchen, und daran wird sich niemals etwas ändern. Ich bin nur hier, weil … weil ich eine pflichtbewusste Ehefrau bin.«
Ihr Vater wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, und Trish lief in die Küche, um einen Krug Eistee aus dem Kühlschrank zu holen.
»Viel zu pflichtbewusst«, murmelte er. »Ich verstehe immer noch nicht, wieso Nate nicht für diese Privatfirma arbeiten wollte. Es wäre leicht verdientes Geld, bei wenig Papierkram. Dort hätte er etwas aus sich machen können. Aber hier …«
Trish reichte ihm ein eiskaltes Glas, setzte sich an den Tisch und schob mit dem Fuß den Stuhl ihr gegenüber hervor. Ihr Vater drehte sich jedoch zum Fenster und sah auf die stille Einbahnstraße hinaus.
»Ich dachte, du findest, dass Nate in Ordnung ist«, sagte sie. »Das hast du zumindest immer gesagt.«
»Ist alles eine Frage der Perspektive. Gestern hat dein Ehemann Robbie Carmoody angehalten, weil er 55 in der Stadt draufhatte. Wir wissen doch alle, dass Carmoody seit ein paar Jahren arbeitslos ist – seit diese Schweinepriester in der Fabrik lieber auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland setzen. Wer stellt denn schon eine sechzigjährige Führungskraft ein, die Achtzigtausend im Jahr verlangt? Aber das ist noch lange kein Grund, sich wie ein Arschloch zu benehmen. Dein Mann hat ihn aber mit einer mündlichen Verwarnung davonkommen lassen. Carmoody sitzt jetzt gerade im Lloyds und hat bestimmt schon gut einen sitzen.«
»Na und? Nate versucht eben, eine freundschaftliche Beziehung zu den Leuten hier aufzubauen.«
»Eine freundschaftliche Beziehung? Weißt du, was ihm das einbringen wird? Einen schönen Haufen Hundescheiße vor seiner Tür.«
»Das hoffe ich nicht, Dad, denn das ist auch meine Tür.«
»Lach du nur. Mach dich über mich lustig. Aber ich sag dir eines: Wenn dein Mann sich unbedingt wie ein Schwächling aufführen will, wird es nicht lange dauern, bis sich das herumgesprochen hat. Zu Anfang hat jeder Respekt vor einer Dienstmarke, aber wenn sie erst einmal spitzkriegen, dass der Mann dahinter nur ein Schlappschwanz ist …«
»Nate ist kein Schlappschwanz, und nur, weil er Carmoody mit einer Verwarnung davonkommen lassen hat, macht ihn das noch lange nicht zu einem leichten Ziel.«
»Soll ich dir mal was über ein leichtes Ziel erzählen?«, fragte ihr Vater und hob herausfordernd die Stimme. »Dann hör mal zu. Earl Bishops Sohn ist erst letzten Monat in die Stadt gezogen und übernimmt jetzt, wo Earl an der Dialyse hängt, den Laden seines Vaters. Earl hat sonntags niemals Alkohol verkauft, um den Sabbat zu ehren. Ein Brauch, den wir hier sehr zu schätzen wussten.«
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