Melanie verschlug es den Atem, als sie eintrat. In der Ecke stand eine funkelnde Badewanne, die wie ein gebogener Pantoffel geformt war. Sie war in mattem Weiß gehalten, mit einem tiefschwarzen Rand, der in Löwentatzen mündete, mit denen sie auf dem Marmorboden stand. Altmodisch, aber bestens erhalten und mit ein paar modernen Umrüstungen versehen. Von der Badewanne aus konnte man auf die einsame Landstraße hinausblicken, aber für den Fall, dass man sich vor neugierigen Blicken schützen wollte, stand ein zusammengefalteter Paravent an der hinteren Wand.
»Ich habe letztes Jahr noch ein paar von diesen abnehmbaren Duschköpfen nachrüsten lassen«, erklärte Desiree. »Ich habe sie selbst noch nicht getestet, aber alle schwärmen immer davon.«
Das Zimmer versprach deutlich mehr Komfort, als Melanie eigentlich wollte. Das hier war schließlich kein Urlaub. Sie würde sich schuldig fühlen, wenn sie sich am Ende noch hier wohlfühlte.
»Es wird Sie außerdem freuen, zu hören, dass wir komplett mit drahtlosem Internet ausgestattet sind. Ich war zwar nicht unbedingt scharf darauf, aber offenbar lockt das rustikale Landleben die Leute nur dann, wenn die modernen Annehmlichkeiten nicht all weit weg sind.«
»Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, es ist großartig.«
»Nun, dann lasse ich Sie jetzt erst einmal in Ruhe ankommen. Sie sind etwas spät dran für ein Frühstück, aber ich mache Ihnen nachher gern ein Sandwich, falls Sie etwas zu Mittag essen wollen.«
»Ich denke, ich kann bis zum Abendessen warten«, sagte Melanie. »In der Zwischenzeit packe ich lieber aus.«
»Nun, dann klopfe ich gegen vier Uhr einfach einmal bei Ihnen an und sehe nach, wie es Ihnen geht. Sie sind momentan mein einziger Gast, also werde ich mal nachschauen gehen, was ich so in der Küche habe und uns etwas Besonderes kochen. Wie hört sich das an?«
»Das wäre wirklich wunderbar.«
Melanie brachte sie noch an die Tür und wartete dann einen Moment, um sicherzugehen, dass die alte Frau unbeschadet die Treppenstufen hinuntergestiegen war.
Dann packte sie ihre Taschen aus und nutzte den begehbaren Kleiderschrank vollumfänglich aus. Es war absolut großartig, ihre Garderobe auf diese Weise ausbreiten zu können und zu sehen, was sie alles mitgebracht hatte. Plötzlich schien es ihr, als würde ihre Kleidung nicht reichen, auch wenn der Plan immer noch vorsah, in ein paar Tagen schleunigst wieder von hier zu verschwinden.
Sie zog sich um und beschloss, vor dem Essen noch eine Runde Laufen zu gehen. Melanie fuhr sich mit der Hand über ihren Bauch und überzeugte sich davon, dass nicht ein paar Pfunde zugelegt hatte. Sie hatte in dieser Woche nämlich mit ihrer Lauf-Routine gebrochen, doch sie stellte fest, dass es dringend an der Zeit war, wieder damit anzufangen. Nicht, um für den Mann, der in ihrem Leben noch fehlte, gut auszusehen, sondern weil sie es genoss, mit den anderen Frauen mithalten zu können. Selbst, wenn schmierige Studenten unangebrachte Kommentare hinter ihrem Rücken abließen, war es auf gewisse Weise dennoch schmeichelhaft – wenn auch auf herabwürdigende Art und Weise.
Das weite T-Shirt hing locker von ihren Schultern und Melanie zog sich jetzt eine kurze Laufhose über ihre Oberschenkel. Dann band sie ihre Asics zu, verstaute ihren iPod in ihrer Armtasche und steckte sich auf dem Weg die Treppe hinunter, die Hörer in die Ohren. Auf dem Parkplatz angekommen, drehte sie Kylie Minogues Light Years voll auf und bog dann nach links in Richtung Forest Grove ab.
Der Ort strahlte eine Ruhe aus, von dem die Verfechter der sogenannten Kleinstadtidylle so oft schwärmten. Stus Tankstelle begrüßte einen offenbar immer noch mit einem sanften Klingeln, wenn ein Wagen an eine Zapfsäule fuhr, und ein Angestellter in Overall kam daraufhin aus der Garage gerannt, um nicht nur Benzin nachzufüllen, sondern auch den Ölstand zu prüfen und die Scheiben zu putzen. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte Jennifer darauf bestanden, kurz anzuhalten und eine Schachtel Marlboro zu kaufen. Das war die Nacht vor ihrer Ermordung gewesen. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatte sich anscheinend nicht viel verändert.
Die Straße machte jetzt einen Bogen nach rechts und führte direkt in die Stadt hinein. Ein grasbewachsener Park mit einem gigantischen weißen Pavillon in der Mitte, teilte die Straße anschließend in zwei Richtungen. Rechts führte sie genau in die Stadt hinein, links wieder hinaus. Ein zweistöckiges Schulgebäude versprühte mit seinem perfekt gepflegten Rasen und den Reihen Fahrradständer einen Hauch von Hochschul-Feeling.
Sie kam jetzt an einer der örtlichen Banken vorbei, die von Rentnerinnen belagert wurde, einem Postgebäude mit weißen sandgestrahlten Treppenstufen und einem schimmernden Titanium-Geländer, einer Pizzeria, einem Sandwichladen namens THE SHACK und einem Gemischtwarenladen, der den schlichten Namen EARL’S trug.
Auf der linken Seite schloss ein Antiquariat die überschaubare Einkaufsmeile kleiner Geschäfte ab. Der Weg zur Stadthalle war von kreisrunden Steinplatten zwischen hüfthohen Büschen gesäumt. Die Bibliothek selbst war unscheinbar und wirkte verlassen. Daneben rühmte sich ein italienisches Restaurant damit, seit fünf Generationen im Familienbesitz zu sein. Dazwischen befanden sich immer wieder kleine Wohnhäuser, mit renovierten Fassaden, an denen sie aber Satellitenschüsseln entdeckte.
Forest Grove war seit ihrem letzten Besuch offenbar doch ein wenig gewachsen.
Dann sah sie am Rande der Stadt, in den Boden gesteckt und irgendwie isoliert, das Schild. Ein wenig ausgeblichen und etwas schief, aber immer noch gut lesbar stand darauf: CAMP FOREST GROVE – 5 MEILEN.
Die Illustration eines Flusses zog sich im Zickzack durch gemalte Baumkronen und führte zu einer Blockhütte, die in einem übertrieben orangefarbenen Sonnenlicht badete. Ein paarmal hatte man offenbar schon versucht, Graffitis davon zu entfernen und diese letzten Endes mit Weiß übermalt. Eine der Schmierereien Ein schöner Platz zum Sterben war noch immer als hässliche Narbe unter hastig hinzugemalten Tannenbäumen zu erkennen.
Melanie starrte das Schild mit weit aufgerissenen Augen an. Panik erfasste sie, als sie die Ereignisse jener Nacht mit voller Wucht wieder einholten. Die zahlreichen Schnitte, mit denen Jennifers Kehle aufgerissen worden war, und die Erkenntnis des plötzlichen Todes, die sich in Lindseys starren Blick eingebrannt hatte …
Hör auf damit!
Aber das konnte sie nicht, denn die unangenehmen Erinnerungen strömten jetzt aus allen Winkeln ihres Verstandes auf sie ein … der Schwarm Moskitos, als sie die Kanus in den Lake Forest Grove geschoben hatte … Hoyts widerwärtiger Gestank … seine raue Haut unter ihren Nägeln, als sie versucht hatte, ihn abzuwehren … sein Blut an ihren Händen und in ihrem Körper, nachdem sie es hinuntergeschluckt hatte …
Ich habe diesen Bastard niemals sterben sehen.
Er war tot. Zumindest behaupteten sie das alle, aber gesehen hatte es niemand.
Melanie war schweißgebadet und beschloss daher, dass sie für heute genug trainiert hatte. Sie drehte sich um, überquerte die Straße und joggte auf der anderen Seite wieder zurück.
Es war kurz vor drei, als sie das Desirees erreichte. Sie taumelte hinein, stieg mit wackeligen Beinen zu ihrem Zimmer hinauf, begab sich direkt ins Badezimmer und drehte das heiße Wasser an der Badewanne auf. Ihre Klamotten waren komplett durchgeschwitzt, als sie diese auszog und als Spur auf dem Boden hinter sich zurückließ. Desiree hatte auch eine reichhaltige Auswahl an Schaumbädern und Bade-Ölen im Wandschrank deponiert, Melanie konnte ihr Glück kaum fassen. Das war deutlich mehr Luxus, als man es von einer kleinen Pension auf dem Land erwarten konnte.
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