Aber ich verstand die Sprache der Trauer gut. Ich verstand, dass es alles verändert. Dass die Trauer all das Gute in eine unsichtbare Dunkelheit hinabsenkt. Sein Tod wurde meine Zeitrechnung, mein Damals und Jetzt. Gleichwohl habe ich selten an ihn gedacht. Ich kann nicht an ihn denken. Das, woran ich denken kann, ist, wie still es wurde. Es wurde still, und so ist es immer noch. Die Stille wurde übertönt, aber sie ist ständig da. Lass dich nicht täuschen, sie ist ständig hier. Als mein kleiner Bruder starb, wurde in meinem Leben der Ton ausgeschaltet.
Wenn ich nicht an Stille und Dunkelheit denke, denke ich an Gardinen. Die Gardinen im Wohnzimmer waren bei Tag zu und bei Nacht auseinander gezogen. Es war immer dunkel. Alle Erwachsenen starrten in die Luft, als ob sie etwas anstarrten, was ich nicht sehen konnte, und etwas lauschten, das ich nicht hören konnte. Ich stand im Wohnzimmer und sah Dinge an ohne ihre Namen zu kennen. Weder Gardinen noch Licht oder Dunkelheit konnte ich noch benennen. Sie waren einfach da. Genau so wie die Männer einfach da waren. Die Männer, die nach seinem Tod im Badezimmer knieten und einen neuen Boden auslegten.
Als ich auf dem Bahnsteig stand, rief Anders wieder an. Er erzählte mit bebender Stimme, dass Hilde sich im Badezimmer eingeschlossen hatte. Sie war den ganzen Tag dort drin gewesen, und er konnte sich nur deshalb davon abhalten, die Tür einzutreten, weil er hören konnte, dass sie auf der anderen Seite saß und heulte.
Seine Stimme klang wie ein Boot, das dabei war zu kentern, und ich fühlte einen Stich aufrichtiger Sorge um ihn.
Als er aufgelegt hatte, rief ich zu Hause an. Der Wind kratzte in der Leitung. Ich wollte Mattis’ Stimme hören, ihrem Klang lauschen. Seine Stimme kann mich immer dazu bringen runterzukommen, wenn ich aufgeregt bin, und mich zusammenzureißen, wenn ich dabei bin auseinanderzufallen. Einige Male wünschte ich mir, dass er nicht diese Wirkung auf mich hätte, und andere Male hasse ich es geradezu. Aber das ändert nichts daran, dass er ein guter Mann ist. Er gehört in eine Welt, in der es keinen Zweifel gibt. Obwohl ich die ganze Zeit wusste, dass ich mich dafür glücklich schätzen sollte, dass ich es war, die er in den Jahren, die wir zusammen waren, zu lieben gewählt hatte, richtete ich mich nicht danach.
Niemand nahm den Hörer ab, also rief ich noch einmal an, bekam aber immer noch keine Antwort. Er muss doch zu Hause sein, dachte ich, und rief noch ein drittes Mal an, wobei ich das Telefon einfach klingeln ließ, ohne es ans Ohr zu halten. Der Zug war verspätet, aber just als die Rastlosigkeit an mir zu nagen begann, näherte er sich in der Dunkelheit. Der ratternde Klang der Zugwaggons, der auf den Bahnsteig drang, brachte die Leute dazu, aus den nächtlichen Schatten zu taumeln wie umherirrende Fledermäuse, die aus ihrem Versteck gescheucht werden. Der Zug begann seinen langen, zähen Bremsvorgang mit einem ohrenbetäubenden Quietschen. Ich hielt mir mit den Fingern beide Ohren zu, aber sein Schrei erzeugte trotzdem Widerhalle in meinem Schädel. Wenige Augenblicke später wurden die Türen mit lautem Knallen aufgestoßen, das eine Serie von Echos durch den Regen schickte. Ich warf meine Reistasche über die Schulter und quetschte mich durch den schmalen Gang.
In meinem Schlafwagen war noch niemand drin, obwohl er für sechs Leute ausgelegt war. Zwei braune samtene Kojen ganz unten, zwei in der Mitte, die die aufgeklappt werden sollten, und zwei ganz oben unter der Decke. Trotz der Abscheu, die ich dabei fühlte, in der Nähe von Fremden zu schlafen, hatte ich die billigste Fahrkarte genommen, die ich kriegen konnte, in der Hoffnung, dass das mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich Anders’ Bedürfnisse über die meiner Familie stellte, lindern würde. Ich drückte die Tür ein weiteres Mal zu, als ob das jemanden davon abhalten würde, in den nächsten vielen Stunden durch sie durchzukommen.
Im Gegensatz zu Anders bin ich bei meinen beiden Eltern aufgewachsen. In dem großen Haus nahe Strandvejen habe ich meine Kindheitsjahre verbracht. Wir wohnten im Erdgeschoss, wo meine Eltern heute noch wohnen. Als ich klein war, blieb meine Mutter zu Hause und kümmerte sich um den Haushalt, während mein Vater sich als Verleger etablierte. Nach dem Tod meines Bruders warf er das Los, kündigte seinen Job als Revisor und verfolgte seinen Traum mit nahezu blutrünstigem Eifer. In der Etage darüber wohnte die Greisin. Sie starb vor kurzer Zeit. Am vorletzten Tag des Jahres nahm sie ihren letzten Atemzug. Ihre Wohnung sieht weiterhin so aus, als ob sie nur vom Sessel aufgestanden und auf den Altan gegangen wäre, um etwas Luft zu schnappen. Die Pantoffeln warten auf der Fußmatte. Das Zigarettenetui liegt zusammen mit ihrer Lesebrille geöffnet auf dem Tisch und auf der Armlehne des Sessels liegt das Buch, mit dem sie nie fertig wurde.
Als Kind bin ich viel allein gewesen. Mein großer Bruder kam nur in den Sommerferien zu uns zu Besuch, so dass ich viele Jahre lang technisch gesehen Einzelkind war. Obwohl ein junges Mädchen sich kein besseres Umfeld zum Aufwachsen wünschen konnte, war das genau das, was ich tat. Ich sehnte mich nach allem, was anders war. Ich sehnte mich immer danach, an einem anderen Ort zu sein. Als ich also mit der neunten Klasse fertig war, war mein größter und einziger Wunsch, dass mir erlaubt würde hinauf zu reisen und bei Anders in Oslo zu leben.
Das erste Mal, dass ich meinen großen Bruder als großen Bruder wahrnahm, war an dem Tag, als er mir das Fahrradfahren beibrachte. Ich war sieben Jahre alt. Es war Hochsommer. Wir saßen auf dem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und langweilten uns, als er mir plötzlich sein gebräuntes Gesicht zuwandte und fragte: „Kannst du eigentlich Fahrrad fahren?“ Als ich beschämt den Kopf schüttelte, denn damals war ich ständig vor ihm eingeschüchtert, ergriff er resolut meine Hand, zerrte mich auf den Hofplatz, zog mein Fahrrad aus dem Schuppen, gab ihm einen harten Klaps auf den Sattel und sagte: „Dann wird dein großer Bruder dir das schon beibringen.“ Das war das erste Mal, dass der Begriff großer Bruder sich so schön in meiner Brust ausbreitete.
Den Rest des Nachmittags lief er unermüdlich hinter mir, den Gepäckträger fest im Griff. Wenn ich schlingerte, richtete er meinen Kurs, und wenn ich stürzte, richtete er mich auf. Wenn ich mir die Haut aufriss, wusch er meine Wunden, und wenn ich aufgab, brachte er mich dazu dabeizubleiben. Und ganz plötzlich ließ er los, und ich fuhr Fahrrad.
Den Umständen zum Trotz vermochten Anders und ich ein Verhältnis aufzubauen, das unsere Kindheit hindurch wuchs. Der kindliche Wille ist mehr zu überwinden imstande, als man glaubt. Ich bestand darauf, dass Anders mein Bruder war und band ihn im Laufe der Jahre näher und näher an mich. Mit unbändiger Entschlossenheit hielt ich an den jährlichen Sommerbesuchen fest, obwohl ich wohl die einzige war, die sie sich wirklich wünschte.
Jeden Sommer hielt es Anders so zwei steife Wochen bei uns aus, in denen niemand außer mir zu verstehen versuchte, was er sagte. Zwei Wochen, in denen mein Vater seinen Sohn verwundert ansah, und in denen meine Eltern all ihre Kräfte dafür aufwandten, für dieses im Grunde genommen fremde Kind eine verkrampfte Familienvorstellung aufzuführen.
Als ich ihn auf dem Hof in Norwegen besuchte, war es anders. Hier wurde ich wie ein Wunder behandelt, das im Laufe der Nacht vom Himmel gefallen und auf der Türschwelle der Familie gelandet war. Hier aßen wir Würstchen direkt aus der Pfanne, liefen abschüssige Wiesen hinab, lagen unter unendlichen Baumkronen, lasen Anders’ Donald-Duck-Hefte und waren einfach wir selbst. Es färbte mein Innerstes kohlenschwarz, dass meine Eltern nicht auch so sein konnten.
Über die Sommerbesuche hinaus hielten wir engen Briefkontakt. Ich schrieb lange, Anders schrieb kurze Briefe. Ich stellte Fragen, Anders antwortete. So war das Gleichgewicht. Ich wusste, dass unsere Verbindung in der Sekunde aufhören würde, in der ich aufhören würde zu schreiben, also machte ich weiter.
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