Pierre Ferrière · Isabelle Meeûs-Michiels
DOCH, ES GIBT EINE ANDERE WIRKLICHKEIT
Meditieren mit Etty Hillesum
Pierre Ferrière · Isabelle Meeûs-Michiels
Doch,
es gibt
eine andere
Wirklichkeit
Meditieren mit
Etty Hillesum
Titel der französischen Originalausgabe:
Prier 15 jours avec Etty Hillesum ,
© 2004, Nouvelle Cité, Bruyères-le-Châtel.
Übertragung ins Deutsche: Stefan Liesenfeld
1. Auflage 2014
© Alle Rechte der deutschen Ausgabe bei:
Verlag Neue Stadt GmbH, München
Coverbild und S. 125
(nach einer Fotografie
von Etty Hillesum) : Jan Schaefer
Gestaltung und Satz: Neue-Stadt-Grafik
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-7346-1003-5
www.neuestadt.com
„Jemand, den die Liebe zu seiner Vollendung führt,
muss gewaltige Weiten durchqueren,
über Gipfel und Abgründe muss er;
bei Unwettern wird er seinen Weg suchen,
um eingeweiht zu werden in sein Geheimnis:
dass man Ja sagen muss zur endlosen Wüste,
dass man pausenlos gehen muss durch dürres Land,
dass man sich schinden muss
auf dem Grat von Bergen und auf Gipfeln;
dass man wilden Gebirgsbächen trotzen muss
und bodenlosen Abgründen,
um die LIEBE zu gewinnen
durch eine Liebe ohne Maß.“
Hadewijch von Anvers, 13. Jahrhundert
„Etwas Geheimnisvolles liegt in der Geschichte dieser jungen Niederländerin, die 1943 in Auschwitz starb: Sie zeigt, wie Gott in ein völlig ungeordnetes Leben eintreten und es verwandeln, wie er jede noch so düstere und ausweglose Situation erhellen kann. – Etty, ein junger Mensch ohne Glauben, ohne religiöse Basis, schildert bestechend klar ihren Weg, ihr inneres Chaos, ihre Verliebtheit in ihren Therapeuten … – und wie ihr ein Sinn für Gott geschenkt wird. Unwiderstehlich wird sie von diesem Geheimnis angezogen. Die letzten Monate ihres Lebens verbringt sie in einer solchen Intimität und Vertrautheit mit Gott, dass sie selbst die Judenverfolgung der Nazis mit innerer Ruhe beschreiben und, ohne zu verbittern, das Unglaubliche sagen kann: dass wir die lieben müssen, die uns Böses antun.“
Carlo Maria Martini über Etty Hillesum
Lebensstationen und innerer Weg
Meditationen zu Texten von Etty Hillesum
I |
– Ich mit meiner „verstopften Seele“ |
II |
– Eine stille Stunde |
III |
– Hineinhorchen |
IV |
– Den Eltern vergeben |
V |
– Allein. Ich bin mir selbst anvertraut |
VI |
– Mein Anteil am „Massenschicksal“ |
VII |
– Jeden Tag Abschied nehmen |
VIII |
– Das Widrige verwandeln |
IX |
– Ich will dir helfen, Gott |
X |
– Jeder Tag hat genug eigene Plage |
XI |
– Ich finde das Leben so schön |
XII |
– Geschehen lassen |
XIII |
– Eine Wohnung für dich suchen |
XIV |
– Von der Liebe zum Schreiben zum „Schreiben der Liebe“ |
XV |
– Ununterbrochene Zwiesprache |
Abkürzungen und Quellen
Lebensstationen und innerer Weg
BIOGRAFISCHE NOTIZEN
Ester (Etty) wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg/Niederlande in eine nicht praktizierende jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, Louis Hillesum, war Lehrer für Alte Sprachen, später Gymnasialdirektor; die Mutter, Rebecca (Riva) Bernstein war mit ihrer Familie aus Russland emigriert. Etty hatte zwei jüngere Geschwister, Jacob (Jaap), der später Arzt wurde, und Michaël (Mischa), ein genialer Pianist, aber psychisch instabil; er litt unter schizophrenen Störungen.
1932 nahm Etty in Amsterdam das Studium der Rechtswissenschaft auf; später bezog sie dort zusammen mit ihren Brüdern eine Wohnung. Die politischen Entwicklungen verhießen nichts Gutes. 1933 wurde Hitler deutscher Reichskanzler, die Errichtung erster Konzentrationslager ließ nicht lange auf sich warten …
Neben ihren juristischen Studien vertiefte sich Etty ins Russische, die Sprache ihrer Mutter: Sie verstand es perfekt und gab einigen Schülern Privatunterricht. Gegen Ende ihrer Studienzeit, im Jahr 1937, zog Etty in das Anwesen von Han Wegerif, einem verwitweten nichtjüdischen Buchhalter, dessen Gefährtin sie wurde. Im Juli 1939 legte sie ihr Juraexamen ab.
Die politische Entwicklung wurde immer bedrängender. Am 10. Mai 1940 fielen deutsche Soldaten in die Niederlande ein. Die Naziherrschaft wirkte sich allmählich auch auf Ettys Leben aus und war auf bedrückende Weise allenthalben spürbar.
Bereits am 29. November 1940 wurde ihr Vater wegen seiner jüdischen Abstammung aus seiner Stellung als Gymnasialdirektor entlassen. Anfang 1941 zwang der Stadtkommissar von Amsterdam die jüdischen Honoratioren, einen „Judenrat“ zu bilden, der seine Anordnungen unter den Juden bekanntzumachen hatte.
Äußerlich war Ettys Leben von diesen Entwicklungen zunächst nicht allzusehr betroffen, wohl aber schlugen sich die Erschütterungen in ihrer inneren und physischen Befindlichkeit nieder. Um etwas dagegen zu unternehmen, konsultierte sie einen Psycho-Chirologen namens Julius Spier, einen 1887 geborenen deutschen Juden. 1939 hatte er aus Berlin fliehen müssen und in Amsterdam Zuflucht gefunden. Am 3. Februar 1941 suchte Etty ihn erstmals auf. Der Kontakt mit Spier half ihr langsam, aber sicher aus der Talsohle herauszukommen.
Es war Spier, der sie zum Schreiben ermutigte, um die Gefühlsschwankungen zu „besänftigen“. Im Verlauf der Therapie wuchs zwischen ihnen eine tiefe Zuneigung, die sie beide voller Leidenschaft lebten und als eine große „ Herausforderung“ , als „ enorme Aufgabe“ verstanden. Etty hat nicht zuletzt dadurch zu ihrer einzigartigen Persönlichkeit gefunden. Die Beziehung mit Spier war ebenso vielschichtig wie schön, um es mit diesem einfachen Wort zu sagen; sie bestand bis zu Spiers Tod am 15. September 1942. Ettys Tagebucheinträge, die am 8. März 1941 beginnen, erscheinen anfangs wie eine einfache Wiedergabe der Sprechstunden bei Spier.
An demselben Tag, an dem Etty sich darangibt zu schreiben, begreift sie sich zum ersten Mal als Jüdin. Die Lage der Juden war überaus prekär; es kursierten Gerüchte einer planmäßigen Judenvernichtung in ganz Europa; man sprach von Deportationszügen in Richtung Vernichtungslager … Seit Mai/Juni des Jahres 1942 wurden die antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ in den Niederlanden rigoros umgesetzt. Der Judenrat wurde kurz darauf über die bevorstehenden Deportationen informiert. Das Lager Westerbork im Nordosten des Landes wurde zu einem „Durchgangslager“; dort fuhren die Deportationszüge ab …
Im Juli 1942 bewarb sich Etty auf Drängen ihres Bruders Jaap brieflich um Aufnahme in den Judenrat. Kaum hatte sie diese Aufgabe übernommen, beantragte sie die Versetzung nach Westerbork. Dort absolvierte sie vier Arbeitseinsätze, unterbrochen durch vorübergehende, aufgrund einer tiefen Erschöpfung notwendige Aufenthalte in Amsterdam. Während ihres letzten Einsatzes in Westerbork wurde ihr dieses unheilvolle Lager als „Aufenthaltsort“ zugewiesen – nicht mehr in der Funktion einer Art Sozialarbeiterin für die verstörten, ihres düsteren Schicksals harrenden Menschen, sondern in der Erwartung ihrer eigenen Deportation.
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