Reinold Schmücker - Gibt es einen gerechten Krieg?

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Wer Krieg verhindern will, muss danach fragen, unter welchen Bedingungen Krieg moralisch gerechtfertigt wäre. Antwort darauf gibt die Theorie des gerechten Krieges, wenn man sie weiterentwickelt und neu interpretiert. Dann stellt sie uns nämlich einen überzeugenden Maßstab zur Verfügung, der es ermöglicht, die Illegitimität eines Krieges zu erkennen.

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Reinold Schmücker

Gibt es einen gerechten Krieg?

[Was bedeutet das alles?]

Reclam

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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961871-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014055-0

www.reclam.de

1. Gibt es einen gerechten Krieg?

Gibt es einen gerechten Krieg? Wer so fragt, muss mit Skepsis rechnen: Kann man sich einen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen Gerechtigkeit und Krieg? Verweist nicht der Begriff der Gerechtigkeit auf eine faire Verteilung von Gütern und Chancen und ein Miteinander gleichberechtigter Individuen? Bezeichnet er nicht das Gegenteil von Unrecht und Unterdrückung, Benachteiligung und Gewaltherrschaft? Ist Krieg nicht demgegenüber untrennbar verbunden mit der Entfesselung von Gewalt, mit unermesslichem Leid und dem Tod einer Vielzahl von Menschen? Ist er nicht eines der furchtbarsten Übel, das uns treffen kann? Und ist es deshalb nicht absurd, Gerechtigkeit und Krieg zusammenzudenken?

Wer diesen Verdacht hegt, der stelle sich die Gegenfrage: Lässt sich über Krieg wirklich sprechen, ohne dass man Fragen der Gerechtigkeit und der Moral berührt? War es moralisch falsch, dass Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärten, um es an der Unterwerfung Polens zu hindern? Und wäre es nicht vielleicht moralisch richtig gewesen, wenn militärisch hinreichend potente Staaten 1915/16 den Völkermord an den Armeniern oder 1994 den Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda durch ein militärisches Eingreifen gestoppt hätten? Erschöpft sich Gerechtigkeit tatsächlich in einer fairen, die Interessen aller gleichermaßen berücksichtigenden Verteilung von Gütern? Erfordert sie nicht vielmehr auch den Schutz von Leib und Leben eines jeden Menschen, ja, vielleicht sogar den seiner Habe, vor ungerechtfertigten Übergriffen? Und hat sie nicht auch eine Dimension, die die Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht betrifft?

Wie immer man diese Fragen beantworten mag – eines zeigen sie ganz klar: Der Einsatz militärischer Mittel wirft Fragen der Gerechtigkeit auf. Die Philosophie denkt deshalb seit der Antike über die Legitimität von Krieg nach. Dabei hat sich, insbesondere seit dem späten Mittelalter, eine Tradition kriegsethischer Reflexion herausgebildet, die in englischsprachiger Literatur meist unbefangener als im Deutschen als just war theory , als ›Theorie des gerechten Krieges‹, bezeichnet wird.1

Das vorliegende Buch greift Einsichten auf, die in dieser Tradition des Nachdenkens über die Legitimität von Krieg gewonnen worden sind, und versucht, auf die Frage, die es im Titel stellt, eine Antwort zu geben, die der Furchtbarkeit eines jeden Krieges ebenso Rechnung trägt wie der Unvermeidlichkeit kriegsethischer Reflexion. Mir ist bewusst, dass das kein leichtes Unterfangen ist. Die Überzeugung, dass es keinen gerechten Krieg gibt, lässt sich jedoch nicht dadurch als richtig erweisen, dass man die Frage tabuisiert. Nicht die Diskreditierung der Frage scheint mir deshalb geboten zu sein, sondern die Suche nach einer überzeugenden Antwort und eine nüchterne Analyse der Konsequenzen, die sich daraus für eine Friedenspolitik ergeben, die nicht unrechtsblind ist. Beides setzt zuallererst eine Klärung voraus, was genau die Frage eigentlich erfragt und warum das Nachdenken über die Legitimität von Krieg wichtig ist. Davon wird in diesem Kapitel die Rede sein.

Wonach die Frage fragt

»Gerechtigkeit« ist ein positiv konnotierter Begriff. Gerechtigkeit stellen wir uns zumeist als einen Zustand vor, der durch eine faire Verteilung von Gütern und die Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht gekennzeichnet ist. Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, kann deshalb leicht so verstanden werden, als erfrage sie, ob Krieg mit einem solchen Zustand in Verbindung gebracht werden kann. Das wäre jedoch ein Missverständnis. Denn der Ausdruck bellum iustum (›gerechter Krieg‹), in dem der Aristotelische Gedanke eines polemos dikaion 2 wiederauflebt, bezeichnet seit der Spätantike ein Kriegshandeln, das durch die Berufung auf göttliches oder natürliches Recht oder vernunftrechtliche Normen gerechtfertigt, d. h. als zulässig ausgewiesen werden kann. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« zielt auf die Möglichkeit von Krieg ab, der in diesem Sinn normativ gerechtfertigt ist.

Als normativer Maßstab kam dabei, weil es universell geltendes positives Völkerrecht nicht gab, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts nur ein nicht positiver Maßstab in Betracht: das Natur- oder Vernunftrecht, in dem sich das von Natur aus bzw. von Vernunfts wegen Richtige artikulierte. Heute kann demgegenüber über die Zulässigkeit von Krieg auf der Grundlage von Pakten und Verträgen, d. h. von universell geltendem positivem Völkerrecht, juristisch entschieden werden. Die Möglichkeit der Bezugnahme auf einen nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit hat dadurch aber nicht an Bedeutung verloren. Denn eine juristische Entscheidung über die Zulässigkeit von Krieg bezieht sich ihrer Natur nach stets nur auf dessen rechtliche Zulässigkeit. Die Bezugnahme auf die Moral, wie wir den nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit heute meistens nennen, ist deshalb aus mehreren Gründen unverzichtbar. Sie dient

(1) einer vom positiven Recht unabhängigen Beurteilung von Handlungen und Handlungsweisen,

(2) der Kontrolle und Kritik des positiven Rechts und

(3) der Begründung von Vorschlägen zu seiner Veränderung,

(4) der Rechtfertigung rechtswidrigen Handelns sowie

(5) der Begründung von Handlungserwartungen, die über das vom positiven Recht Verlangte hinausgehen.

Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, zielt nicht auf eine juristische Auskunft ab. Sie nimmt vielmehr Bezug auf die Moral als einen nicht positiven Maßstab normativer Richtigkeit. Ich verstehe die Frage deshalb so, dass sie erfragt, ob überhaupt – und wenn ja: unter welchen Bedingungen – das Kriegshandeln einer Partei als moralisch erlaubt und insoweit gerechtfertigt angesehen werden kann.

Indem ich die Frage so verstehe, setze ich zweierlei voraus:

Zum einen gehe ich davon aus, dass die Frage auf die Beurteilung eines Handelns abzielt.

Zum anderen nehme ich an, dass sie auf die Beurteilung des Handelns einer bestimmten Art von Akteuren abzielt, nämlich von Kollektivpersonen .

Erstens interpretiere ich die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« also so, dass sie sich nicht auf Krieg als ein Geschehen, einen Zustand oder einen Sachverhalt bezieht, sondern auf das mögliche moralische Recht einer handelnden Partei, Krieg zu führen. Unter Krieg wird dabei zwar grundsätzlich eine Form eines Konflikts verstanden, »an dem zwei oder mehr Akteure beteiligt sind«.3 Wo ich aber über Krieg als einen Gegenstand der moralischen Beurteilung spreche, verwende ich den Ausdruck »Krieg« als Bezeichnung für das Kriegshandeln jeweils einer Partei.

Verstünde man die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« demgegenüber so, dass sie auf die moralische Beurteilung eines Geschehens oder eines Sachverhalts abzielte, dann ließe sich darauf kaum mehr erwidern als dies: dass Krieg ein großes Übel ist und deshalb nicht gerecht. Eine Antwort auf so konkrete Fragen wie die eingangs genannten, ob ein Staat, der dazu in der Lage gewesen wäre, das moralische Recht gehabt hätte, 1915/16 den Völkermord an den Armeniern oder 1994 den Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda durch ein militärisches Eingreifen zu stoppen, ließe sich aus einer solchen Auskunft nicht ableiten.

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