Impressum
©2021 Rela Reichen & Reinhold F. Schmid
Text:
Reinhold F. Schmid, Chavezstr. 12, CH-3006 Bern
Rela Reichen, Stationsweg 5, CH-3375 Inkwil
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www.storyplus.ch
Titelbild:
Margret Baumann
www.margretbaumann.ch
1. Vor der Klinik
2. Regentag
3. Vor 43 Jahren
4. Adrians Heimkehr
5. Mann und Frau
6. Musik die berührt
7. Eine unangenehme Begegnung
8. Klimawandel
9. Scham und Schuld
10. Bogn Engiadina
11. Unterwegs in der neuen Heimat
12. Respekt und Liebe
13. Quer zum Mainstream
14. Roberts Vorschlag
15. Die Hütte
16. Tschêl
17. Der Flug
18. Rückkehr mit Schatten
19. Treffen auf Lipari
20. Der Zusammenbruch
21. Stefans Entscheidung
22. Fleisch am Knochen
23. Fahrt nach Müstair
24. Ein guter Journalist?
25. Vertikale Erlebnisse
26. Begegnung auf der Alp
27. Neuanfang?
28. Vor der Entscheidung
29. Sich in die Freiheit lenken
30. Klimabericht aus Hamburg
31. Gedanken aus Hamburg
32. Epilog
Atemlos und unruhig erreicht sie den See. Ihr Herz schlägt bis zum Hals hinauf.
Sie versucht, still zu stehen, doch die Schuhe rutschen ab im schlammigen Seeboden und sie rudert mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu finden.
Wie schön, wenn das Wasser landeinwärts rollt, den Weg findet zwischen den Schilfstängeln hindurch und irgendwie versickert in den groben Kieselsteinen! Das Wasser erschien ihr immer schon faszinierend. Als Kind hat sie in den Bergbächen gespielt. Allerdings hat sie bereits damals die Gefahren und die Kraft dieses Elements erfahren. Der Wanderweg oberhalb ihres Geburtsortes war mehrmals im Frühling gesperrt, weil eine Brücke weggerissen oder beschädigt worden war. Auch das Seewasser plätschert nicht jeden Tag so friedlich wie heute. Erst vorgestern haben die hohen Wellen ein Ruderboot und dicke Äste auf die Wiese vor der Klinik getragen. Sie fühlte sich in diesem Frühling manchmal ebenfalls wie ein Stück Treibholz. Herumgeschoben und herumgewirbelt. Und danach stand die Welt Kopf. Oder vielleicht eher sie – je nach Sichtweise.
Sie nickt und bekräftigt damit ihren Entschluss, nächste Woche den See zu verlassen und einen Ruheplatz in den Bergen zu suchen. Eigentlich lustig, dass ihr vorläufig neues Daheim so nahe bei ihrem Geburtsort liegt. Zurück ins Tal, zu ihren Wurzeln, das will sie sicher nicht! Nun hat Nicolina von einer einmaligen Foto-Ausstellung in einem Kulturzentrum im Engadin geschwärmt und ihr einen Besuch dringend empfohlen. Als sie entdeckt hat, dass sie gemeinsam mit dem Künstler vor vielen Jahren eine Weiterbildung absolviert hat, hat sie ihm spontan eine Mail geschrieben. So ist ein spannender Kontakt entstanden, und Andreas hat sie ermuntert, dieses Dorf kennenzulernen. Seine Ausstellung geht zwar in zwei Wochen zu Ende und er wird abreisen. Doch in den Tagen davor kann er ihr in Surain einige wichtige Menschen vorstellen und die zauberhaftesten Plätze zeigen. Danach muss sie ihr Leben neu ordnen und ausrichten. An den See, in die Klinik, wird sie nur noch ab und zu für Kurse und wenige Einzelpatienten reisen.
Sie geht zwei Schritte zurück und breitet die Arme seitwärts aus, steht da wie ein Kreuz und saugt die frische Luft ein. Und wieder aus. Und wieder ein. Das Herz schlägt ruhiger.
Plötzlich wird sie sich der Zeit bewusst und schaut auf ihre Uhr. Oh, sie muss hinein, die Therapiestunde beginnt bald! Robert wartet wohl schon, ihr erster Klient heute. Ein letzter Blick gen Norden, über den weiten See, dann dreht sie sich um und eilt über den unebenen Spazierweg der Klinik zu. Beim Gedanken an Robert macht ihr Herz einen kleinen Sprung. Die Schritte werden schneller und leichter.
An der Tür des Ateliers steht neben ihrem Vornamen immer noch der Nachname ihres Ex-Mannes, dabei liegt die Scheidung von Adrian bereits drei Wochen zurück. Nach der Therapiesitzung werde ich zum Housekeeping gehen und Daniel Beine machen, denkt Seraina.
Gestern diese Hitze und heute so kühl. Der Sommer kommt trotzdem, auch wenn es sich heute nicht so anfühlt, denkt Stefan optimistisch. Hellgraue und dunkelgraue Wolkenballen verhüllen die gegenüberliegenden Bergspitzen des Unterengadins. Kaum auszumachen ist die Sonne im Westen, doch ihre Strahlen finden eine Öffnung in der wattigen Decke, sodass die karbonatreichen Sedimente an den Nordhängen in einem warmen Ocker erstrahlen.
Stefan nimmt seinen Feldstecher von den Augen und schaut in die Runde. Im Osten das Val d’Uina, dann das Val S-charl und das Val Plavna.
Das Handy vibriert, schon wieder ein Anruf. Soll es doch. Später, im Tal, ist der Empfang sowieso besser. Oder könnte es Martina sein?
Morgen werde ich 49 Jahre alt, eine krumme Zahl, kein Grund zum Feiern, ein gewöhnlicher Arbeitstag. Irgendwie mag ich Geburtstage nicht. Es ist mir ein unangenehmes Ritual. Man ist wichtig und trotzdem danach vom Tag enttäuscht.
Würde Martina anrufen wegen seines Geburtstags, diesen Tag als Vorwand nehmen für einen Neubeginn? Zweiundzwanzig Jahre sind wir zusammen gewesen, zwei Jungen haben wir gemeinsam erzogen, und nun sind wir getrennt.
Geburtstag als Neubeginn? Wie sehne ich mich nach meiner Frau! Wie konnte es zu einer solchen Trennung kommen? Trennung – dieses Wort macht mich wütend und verzweifelt. Wut wegen einer Nähe, die mir früher als Kind zu viel gewesen ist. So stark und penetrant, als müsse ich daran ersticken.
Was sagte mir kürzlich ein Freund, als wir über unser Seelenleben sprachen? Dir ist einmal jemand durch deinen Garten getrampelt. Ja, vermutlich wurden vor vielen Jahren meine Grenzen missachtet, bis ich den Kontakt mit meinen eigenen Gefühlen verloren habe.
Seinen Kollegen im Zentrum hat er von der Trennung erzählt. Nur kurz und ohne Tiefe.
Ob sie auch vom Geburtstag wissen? Möglich. Stefan ist erst ein knappes Jahr im Nationalpark angestellt und es besteht ein gutes, offenes Verhältnis. Mit einer Ausnahme. Sobald er schon nur an Carlo denkt, wird er wütend. Diese Wut ist immer noch in ihm, wie einst zu Hause. Wie bei Martina.
Die liebe Martina. Er kennt niemanden, der sie nicht mochte. Wie oft hörte er jemanden über sie sagen: „Sie ist die Ruhe in Person“.
Abends, wenn er schön längst müde im Bett lag, schrieb sie am Küchentisch noch Geburtstagsbriefe an irgendwelche Leute in der Nachbarschaft. Und er wartete im Doppelbett. Auf sie, auf ihre Nähe. Woche für Woche, Monat für Monat dauerte dieses nicht enden wollende Warten.
Damals ist diese „Warterei“ für ihn zur größten Herausforderung und zu einer brennenden Sehnsucht geworden. Eine Sehnsucht, die sich mit der Zeit in Wut verwandelte. Fünfundvierzig Minuten, eine Stunde und mehr wartete er auf seine Frau. Oft legte er dann voller Zorn die Bettdecke über die leere Betthälfte, marschierte wütend ins Besucherzimmer und schlief im Gästebett.
Bevor er talwärts geht, packt er den Feldstecher und das Handy in den Rucksack. Er trinkt einige Schlucke aus der Wasserflasche und wandert nun abwärts über nasse Blumenwiesen. Unterwegs bleibt er nochmals stehen und betrachtet seine Umgebung.
Heute spottet das Wetter über die übliche Beschreibung dieser Region. Von den Föhrennadeln tropft es unentwegt und leichter Nieselregen breitet sich aus über die Gipfel Richtung Osten. Ein Arvenhäher fliegt von einer Föhre zur anderen. Der Filzhut ist nass, die Brille bedeckt mit Tausend Wassertröpfchen. Regenwasser rinnt vom Hut an der Kordel hinunter zum Hals. Würde er den Hut etwas verschieben, dann bliebe der Hals trocken. Doch solches gilt es auszuhalten, will man unbemerkt bleiben.
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