„Der Nationalpark liegt mitten im inneralpinen Trockengebiet der Zentralalpen. Die trockenen Verhältnisse lassen sich nicht nur an den geringen jährlichen Niederschlagsmengen ablesen, sondern auch an den tiefen Werten der relativen Luftfeuchtigkeit.“ Etwa so stellt Stefan den Besuchern die einzigartige Alpenlandschaft in der Einführung vor. Heute allerdings steht er nass und unbeweglich hinter einer Gruppe von Waldkiefern und Föhren und beobachtet den Wanderweg unterhalb seines Standortes.
Da, ist das nicht wieder diese Frau? Nein, das ist keine Täuschung: dieser geschmeidige Gang, die leichten Wanderstöcke! Ihr Körper und ihr Rucksack sind heute jedoch umhüllt von einer türkisfarbenen Pelerine. Habe ich sie nicht schon zwei-, nein dreimal gesehen? Sie hat einen langen Weg vor sich, weil die Busse im Frühling noch nicht bis hier hinauffahren. Bei diesem Wetter …
Ich muss sowieso in Scuol einkaufen. Wenn ich jetzt rasch zum Auto gehe, begegne ich ihr unten an der Kreuzung und kann sie mitnehmen. Sie würde gute eineinhalb Stunden schneller im Dorf sein. Falls sie mitfahren will.
„Es ist bald Zeit zum Abendessen, müsst ihr nun wirklich noch raus zum Fischen?“
„Ja, die Bedingungen sind gut. In zweieinhalb Stunden sind wir wieder zurück“, ruft Rolf seiner Frau zu. „Komm, Stefan!“
Nachdem der Knabe zögernd vorn im Boot Platz genommen hat, startet Rolf den Motor, und in einem weiten Schlenker verlässt die „Mahagoni“ das Ufer. In den Wellen schaukelnd gleitet das Boot um die Landzunge. Die bekannten Häuser, die Pizzeria, der Kirchturm werden kleiner. Noch erkennt Stefan das Schulhaus, wo er im Pavillon in den Kindergarten geht. Bald nähern sie sich dem bewaldeten Hügel, der steil in den See abfällt. Alles bleibt zurück, was an Zivilisation erinnert. Himmel, Wasser und der Höhenzug bilden im Dämmerlicht eine graugrüne Einheit. Stefan nimmt die rhythmischen Bewegungen des Bootes wahr, ihm wird kühler. Übelkeit kommt hoch, sodass er zum Ausgleich beginnt, die nahen Abhänge am Seerand zu fixieren.
Nach weniger als einer halben Stunde tummeln sich zwei fette, silbrige Tiere in der mit Wasser gefüllten Kühltasche. Der nächste Fisch an der Angel ist ein kleines Tier. Es windet sich in den Händen von Rolf.
„Stefan, komm, setz dich vor mich hin!“
Stefan spürt auf einmal einen festen Griff um seinen Oberkörper. Er bekommt keine Luft mehr. Nicht nur, weil er sich kaum bewegen kann, sondern weil sich das Tier in Rolfs Händen in seinem Munde hin und her bewegt. Je mehr er versucht, sich zu befreien, umso fester wird der Griff und umso wilder werden die Bewegungen.
„Onkel Rolf, lass mich los, bitte, lass mich los!“, schreit es in ihm.
Die Zeit setzt aus. Das Boot hebt und senkt sich, Wasser spritzt über die Kleider. An seinen Wangen scheuert ein offener Reißverschluss. Von seinen Lippen tropfen Wasser und Schleim. See und Himmel fließen zusammen und drehen sich. Stefan wird schwarz vor den Augen und er verliert das Bewusstsein.
Unterdessen ist es kühl geworden und das Boot gleitet über die leichten Wellen dem Hafen zu. Rolf putzt Stefan den Mund. Mit seinem Taschentuch reibt er ihm mit Seewasser das Gesicht ab. Alles stinkt nach Fisch, findet Stefan. Der kleine Fisch ist auf einmal so groß und wild geworden. Warum? Stefan schaudert und grübelt nach: Wenn ich erwachsen bin, möchte ich einen Beruf haben, bei dem ich auf Tiere aufpassen und dafür sorgen kann, dass es ihnen gut geht.
Passkontrolle an der Grenze, das habe ich schon länger nicht mehr erlebt, überlegt Adrian. Er kramt in seiner Ledermappe, die neben ihm auf dem leeren Sitz des ICE-Zuges liegt, und sucht seinen Ausweis. Er konnte eine Bahnverbindung früher als geplant erreichen, somit wird er bald zu Hause sein. Nach einer Woche Abwesenheit freut er sich auf Seraina, auf einen romantischen Abend mit gutem Essen und ihrer Nähe.
Draußen fliegt die herbstlich bunte Landschaft vorbei. Der Mann in Uniform wirft einen Blick auf den Pass, schaut kurz in sein Gesicht, nickt unmerklich und geht weiter.
Zwölf Jahre sind sie nun schon verheiratet. Aber sind sie sich wirklich ganz nah gewesen? So nah, wie dies Seelenverwandte beschreiben? Ich bin noch immer verliebt in meine Frau, denkt er. Ist er das? Oder ist es vielmehr ihre Gestalt, die ihn entzückt? Ja, ihr Körper zieht ihn an, doch das lässt sich nicht trennen von ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihre Lieblichkeit, diese ausgewählte Andersartigkeit, ihre Direktheit und gleichzeitig diese Distanz zu ihm. Bald wird er sie umarmen, ihre Wangen spüren und ihren Nacken streicheln.
Nicolina steht auf und streicht die Falten ihrer schicken Hose glatt.
„Ich muss mich noch auf das Meeting morgen in der Firma mit den Chinesen vorbereiten. Und in einer Stunde kommt dein Mann. Ich mache mich nun schleunigst auf den Heimweg. Hoffentlich hat es keinen Stau auf der Straße. Es dauert sowieso mindestens eineinhalb Stunden, bis ich zurück in Chur bin.“
Seraina stellt ihre Tasse ab.
„Ach Nicolina, es ist schön gewesen, keine Eile! Wir sehen uns viel zu wenig. Es ist so wertvoll, mit dir zu plaudern, Gedanken und Ideen zu teilen. Genau wie früher in der Schule! Danach fühle ich mich immer befreit und entspannt und verstanden.“
Zögernd erhebt sie sich.
„Doch du hast recht, nach dem Abendessen will sich unser Nachbar noch bei Adi melden. Und drei Telefonanrufe muss er beantworten. Ich sollte wohl beginnen, das Essen vorzubereiten. Komm, ich begleite dich zur Wohnungstüre. Gute Nacht!“
„Gute Nacht – und ähm … Guten Abend, Adrian! Schön, dich kurz zu sehen! Wir haben eben unsere Klatschrunde hinter uns, ich bin auf dem Weg nach Hause.“
Während Nicolina sich rasch verabschiedet, tritt ein müder Mann ein, beladen mit Koffer und Tasche. Seraina winkt ihrer Freundin kurz, dann blickt sie ihn erstaunt an.
„Hallo Adi, du bist heute früh zu Hause! Ich hab dich noch nicht erwartet nach der langen Fahrt.“
„Ich wollte rechtzeitig bei dir sein und freue mich auf den Abend mit dir. Ich hoffe, dass wir ungestört zusammen sein können.“
Sie schiebt den Koffer aus dem Weg und geht zur Küche.
„Na ja, Matthias von nebenan wollte dich gestern etwas fragen wegen seiner Bohrmaschine. Und ein Herr Rudolf vom Verein will deine Einschätzung zum laufenden Projekt. Ich vermute, es ist der Kassier. Dann hast du noch mehrere Anrufe auf dem Beantworter. Du kannst dich ja mal darum kümmern, ich koche in der Zwischenzeit das Abendessen. Und falls du einen Wein möchtest, hol dir ihn gleich selber aus dem Keller.“
So viel zum romantischen Abend, seufzt Adrian in Gedanken und folgt ihr.
„So eine Woche im Ausland mit neuen Leuten und unerwarteten Aufgaben ist herausfordernd. Und nun schon wieder diese Verpflichtungen, das ist mir zuwider.“
Er rollt mit den Augen. Jetzt ist sie empört:
„Du klingst so sarkastisch. Ist etwas nicht in Ordnung?“
Wieso hat Adi schlechte Laune? Er ist beleidigt wie ein Kind. Habe nicht eher ich Grund, ärgerlich zu sein, nach einer Woche allein zu Hause mit all den Arbeiten hier? Zudem hat er überhaupt nicht gefragt, wie es mir ergangen ist.
Welches Recht hat er, sauer zu sein, wenn er sich doch aufführt, als sei er erst sechzehn?
Ungeduldig und verstimmt dreht sich Adrian im Bett. Noch bevor er den Koffer ausgepackt hatte, ist Matthias gekommen. Danach dieser Mann vom Verein. Ein unsicherer Mensch, der sich mit seinen Fragen nach allen Seiten absichern wollte. Die Mitteilungen auf dem Telefonbeantworter hatte er schnell erledigt. Bald ist es 23 Uhr. Seit einer Dreiviertelstunde liegt er unter der Decke und Seraina ist immer noch im Bad. Warum wäscht sie um diese Zeit ihre Haare? Früher konnte sie es kaum erwarten, dass er von einer Geschäftsreise heimkehrte. Sie hat ihn jeweils lächelnd an der Tür erwartet und mit einem langen Kuss begrüßt. Heute jedoch hat sie ihn kaum angeschaut, war in ihrem Alltag gefangen und hat nur gemeint: „Du bist heute früh“.
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