Der Applaus der Zuhörer erfüllt den Raum und katapultiert Seraina aus ihren Gedanken zurück in die Kirche. Die „Liebesgrüße“ sind verklungen, zum Abschluss spielen die Musiker eine Sonate von Bach.
Doch was soll dieser Brief von Robert? So vorwurfsvoll! Ich soll öfters zurück an den Bodensee kommen. Er will mich noch häufiger auch privat treffen. War es richtig, dass ich damals nach der Trennung zweimal eine Einladung zum Essen bei ihm angenommen habe? Es war eine Geste der Dankbarkeit von ihm, er wollte mich trösten und mir Mut machen. Aber jetzt fordert er mehr Aufmerksamkeit. Wie komme ich bei ihm zurück zu einem Patienten-Verhältnis? Ist das noch möglich?
Dieses Musikstück klingt anders als die vorangehenden. Seraina lässt die anstrengenden Gedanken los und konzentriert sich auf die Musik. Sie hat schon lange keine klassische Musik mehr gehört. Ihr Bruder hat früher Geige gespielt, und mit der Mutter hat sie Konzerte besucht. Wie viele Jahre ist das her? Solche Musiker hat sie jedoch noch nie gehört! Sie drücken eine Leidenschaft und Tiefe aus, die sie manchmal beim Malen verspürt. Die Klänge berühren ihr Herz. Wo führt ihr Leben hin?
Im dritten Satz beginnt die Geige mit einer außergewöhnlichen Triolenmelodie, die sie nach ein paar Takten an das Piano abgibt. In immer neuen Variationen entsteht ein inniger Zwiegesang.
Dann wird das Finale vorbereitet, das man sich brillanter kaum vorstellen kann.
Auch die Frau auf der anderen Seite sitzt nicht mehr ruhig und bewegt ihren Körper im Takt. Stefan beobachtet sie und sieht ihre hohen Wangenknochen und die schmale Nase. Ja, es ist die Frau, die er in seinem Auto mitgenommen hat. Die letzten Töne verklingen, der Applaus füllt die Kirche. Stefan ist mit seinen Gedanken woanders. Er möchte im Kirchengang mit dieser Frau zusammentreffen. Wenn er den Besuchern aus der nächsten Bank den Vortritt lässt und erst dann losgeht, wenn sie in den Mittelgang kommt, sollte das klappen.
„Guten Abend“, begrüßt Stefan die erst flüchtig Bekannte.
„Ah, guten Abend, welcher Zufall!“
Beim Hinausgehen sprechen sie über die Musik des Abends.
„Haben Sie wieder einen weiten Heimweg?“, fragt Stefan.
„Nein, ich wohne hier in Surain und komme gut nach Hause. Doch wenn es so weitergeht, werden wir uns bestimmt wiedertreffen.“
„Ja, das mag sein. Ich bin in Scuol zu Hause. Übrigens, mein Name ist Stefan.“
„Freut mich, ich bin Seraina. Gute Nacht, Stefan!“
„Gute Nacht, Seraina!“
Längst ist Mitternacht vorüber, Stefan wälzt sich im Bett auf die andere Seite und zuckt mit den Beinen. Über seine Lippen kommen Geräusche, kurze Schreie.
Mit einem Arm schlägt er um sich und schreit: „Rolf, lass mich, lass mich los!“
Ruckartig setzt sich Stefan auf, wischt sich durch die Haare und verlässt das Bett.
Er setzt sich im Dunkeln auf seinen Freischwinger. Hastig streicht er sich über sein Gesicht. Was habe ich geträumt? Als es vom nahen Kirchturm dreimal läutet, legt sich Stefan wieder ins Bett. Neulich fragte ein Kollege vom Nationalparkzentrum, ob er einmal am Spielabend dabei sein möchte. Dann könne er sicherlich besser schlafen. Doch er mag keine Spiele, zumindest nicht solche, die man am Stubentisch auf einem Brett oder mit Karten spielt. Er verscheucht diese Gedanken, und augenblicklich kommen ihm die letzten Worte von Seraina in den Sinn: „Gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan.“
7. Eine unangenehme Begegnung
Am nächsten Morgen nimmt Stefan in Ardez an einer Abklärung teil über die Biodiversität der dortigen Wiesen. Bei der Burg Steinsberg entdeckt er den österreichischen Drachenkopf. Diese seltene Pflanze kommt sonst nur noch im Wallis vor. Am Nachmittag wandert er über die Terrassenlandschaft oberhalb von Ramosch.
Hier hat Stefan im letzten Sommer den Baumweißling getroffen, ein filigraner Schmetterling. Das stark gefährdete Braunkehlchen kann man ebenfalls antreffen. Doch jetzt, Ende Mai, ist es noch zu früh.
In der Bäckerei besorgt sich Stefan eine köstliche Spezialität. Am Wochenende wird er seinen jüngeren Sohn treffen. Bei der Terminvereinbarung am Telefon hat dieser gefragt, ob er ihm eine Schachtel von den feinen Schokoköpfen mitbringen könnte.
Nun setzt er sich in sein Auto und fährt langsam rückwärts aus dem Parkfeld.
„Willst du mich überfahren? Hey, kannst du nicht aufpassen, Steff?“
Stefan tritt auf die Bremse und schaut auf die andere Wagenseite: Carlo, ein Arbeitskollege. Der Einzige, den er nicht mag, und wohl der Einzige, der ihn nicht mag. Stefan hat ihn tatsächlich nicht gesehen. Woher kommt er so plötzlich?
„Hallo Carlo, hast du auch von den feinen Schokoköpfe gekauft? Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“
„Ich habe mein Auto bei der Kirche; ich kann selbst fahren.“
„Du hast eine tolle Kamera. Mit diesem Teleobjektiv kriegst du den kleinsten Vogel bildfüllend. Ist Fotografieren dein Hobby?“
Mit verkniffenen Augen schaut Carlo ganz kurz ins Auto.
„Du stellst zu viele Fragen, Steff, ich hasse das. Ciao!“
Ohne einen Blick zurück geht er die Straße hoch ins Dorf und verschwindet hinter den Hausmauern. Verärgert macht sich Stefan auf den Heimweg.
Blöder Kerl! Du bist so ein …! Weshalb stoße ich immer wieder mit Carlo zusammen? Bei ihm fühle ich mich unwohl und bin dann viel zu liebenswürdig mit ihm. Er ist mir gegenüber meist misstrauisch, und es scheint mir, als prüfe er andauernd meine Gesinnung zu ihm. Dabei finde ich ihn innerlich nicht stark und gelassen, eher von anderen Menschen und Umständen geleitet und getrieben. Doch jede Begegnung mit ihm greift mich an, macht mich verletzlich und wütend. Jedes Mal fühle ich mich unterlegen. Und das entfacht die Wut in mir, mit der ich ihn tätlich angreifen könnte.
Daheim trägt Stefan die beiden Packungen Schokoköpfe und das Roggenbrot in den Speisekeller und setzt sich danach an den Computer, um für den nächsten Tag das Programm anzupassen.
Nach einer Stunde Arbeit holt sich Stefan im Keller einen Schokokopf. Genüsslich knabbert er an der dünnen Schokoladenhülle und holt mit spitzer Zunge den Eiweißschaum in seinen Mund. In der Küche spült er seine Hände und entfernt den weißen Schaum von den Mundwinkeln. Schaum, wie Schneeflecken im Frühling, denkt Stefan. Dabei erinnert er sich an ein Ereignis vor einem Jahr:
Er war erst wenige Wochen als Parkwächter im Dienst, da ging im Val da Stabelchod eine riesige Schlammlawine nieder und riss einen Teil des Wanderweges mit einer Brücke mit. Sofort nach dem Eintreffen dieser Meldung im Zentrum machten sie sich auf, um Wanderer in dieser Gegend zu bergen. Als der Regen nachgelassen hatte, stiegen sie ins Tal auf. Glücklicherweise waren alle Wanderer mit dem Schrecken davongekommen. Seither verläuft der Wanderweg an einer neuen Stelle. Am Südhang des Tales sind trichterförmige Löcher zu sehen, am Westhang klaffen tiefe Kerben, in Baumstämme eingeklemmt die Überreste einer Brücke.
Stefan sinniert weiter: Was wird geschehen, wenn im Zusammenhang mit dem Klimawandel die fünf Prozent der Landesfläche der Schweiz, die aus Eis bestehen, zunehmend schmelzen? Lokal, bei Dörfern, ist es zwar ausführbar, mit viel Technik und Bauten einen gewissen Schutz zu bieten. Doch generell sind präventive Maßnahmen nicht möglich. Das Klima verändert sich. Ist die Ursache nur bei den fossilen Brennstoffen, beim Verkehr, zu sehen? Im Zentrum, während der Pausen, kommt es immer wieder zu Diskussionen zwischen den Parkwächtern.
Ich bin mir noch zu wenig sicher, zu welchem Lager ich mich zähle, stellt Stefan fest.
Da gibt es einerseits die Meinung, der Klimawandel sei menschengemacht, und auf der anderen Seite diejenigen, welche die Hauptursache der Veränderung den periodischen Sonnenexplosionen zuschreiben. Wie auch immer, vor 100 Jahren sind in diesem Teil der Schweiz kaum Autos gefahren. Das Automobil galt als eine Gefährdung des Straßenverkehrs, als lärmendes Ungetüm, als Luxusfahrzeug. Ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis es unter Befürwortern und Gegnern des Autos zu einer mehrheitsfähigen Lösung kam. Der Souverän stimmte im Sommer 1925 einer Autovorlage zu. Damals gehörten touristische Kreise zu den vehementesten Befürwortern des Autos. Heute sieht das ganz anders aus. Die meisten Touristen lassen ihr Fahrzeug nach der Anreise stehen und benutzen während der Ferienzeit den gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.
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