Bevor die Worte ihren Lippen entschlüpften, hatte sie, ohne irgendeine Form von Ankündigung, Interesse für mich, deren Existenz sie sonst nur bruchstückhaft wahrgenommen hatte, gefasst. Ich stand vor dem Spiegel auf der Mädchentoilette und wusch mir die Hände als sie mit ihren Jüngerinnen im Schlepptau durch die Tür trat. Es war deutlich, dass sie mir etwas antun wollten, denn sie gingen zielsicher hin und stellten sich im Kreis um mich herum, während sie mein Spiegelbild anstarrten. Nach einer Weile trat das Mädchen vor, so dass sie genau vor mir stand. Sie hob einen ihrer kreideweißen Finger, legte vorsichtig eine Haarlocke hinter meinem Ohr zurecht, und sagte: „Du siehst eigentlich ganz okay aus, Anna, wenn deine Augen etwas größer und deine Wangen nicht so kugelrund wären.“ Dann kicherten sie. Laut und zischend. Der Klang breitete sich abwechselnd aus und zog sich wieder zusammen. Sie blieben eine Ewigkeit stehen und kicherten und kicherten, bevor sie plötzlich wieder gingen.
Als die Tür hinter ihnen zugeknallt war, fiel ich auf die Knie. Ich hielt mich mit beiden Händen an der Kante des Porzellanwaschbeckens fest und schnappte nach Luft. Dann begann ich vorsichtig, die Scherben meiner selbst vom Boden aufzusammeln, sie im Arm zu halten, und lief zum Fahrradschuppen. Hier warf ich sie von mir, in eine Ecke hinter einen Haufen Fahrräder, bis die Pausenglocke wieder klingelte und alle Kinder verschwanden, so dass ich mein Fahrrad finden und nach Hause fahren konnte.
Tränen liefen mir übers Gesicht als ich durch die Eingangstür, die Treppe hinauf, den Gang hinunter, in das Zimmer der Greisin und hin zur Ecke mit dem Sessel stürmte, in dem sie immer mit dem Rücken zum Zimmer saß und über das Wasser schaute. Ich ließ mich in ihre Arme fallen und schluchzte, dass der Stuhl sich bewegte. Sie wiegte mich in ihrer Sicherheit. Ihre Arme waren kraftlos, aber gleichzeitig stark. Sie wiegte mich und flüsterte: „Manchmal muss es wehtun, bevor es gut tun kann, mein kleiner Schatz, aber andere Male muss es nur wehtun, bis es wieder aufhört, und solch ein Tag, glaube ich, ist heute.“
Ich zog die braunen Gardinen vor die Scheibe und lehnte mich im Sitz zurück. Es standen immer noch Menschen im Gang, aber niemand kam in mein Abteil. Am selben Vormittag war ich alleine in der Wohnung gewesen. Nachts war eine dünne Schicht Schnee gefallen. Sie bedeckte die aschgrauen Halden, die an den Hausgiebeln und Bordsteinen lehnten. Am Vormittag aber begann der Regen zu fallen und sog langsam das Leben aus dem letzten Rest Schnee.
In einer Pause zwischen zwei Regenduschen, als die Wolken sich zur Seite zogen und einen Streifen blauen Himmel freilegten, nahm Mattis Selma mit auf einen Fahrradausflug. Ich konnte sie vom Fenster oben aus sehen. Sie saß in ihrem weißen Traktorsitz. Obwohl sie mich nicht sehen konnte, wie ich oben stand und winkte, war ich mir sicher, dass es etwas bedeutete. Ihre kleinen roten Finger umklammerten den Lenker, und ihr Gesicht strahlte vor Wichtigkeit. Das ist so ein Moment, an den sie sich vielleicht als Erwachsene erinnern wird, dachte ich und ging weg vom Fenster.
Ich hatte selbst beschlossen zu Hause zu bleiben. Ich hatte Mattis gesagt, dass ich an einer Aufgabe arbeiten wolle, aber die Wahrheit war, dass ich mich nach Anders‘ Anruf den ganzen Morgen umher gewälzt hatte und müde wie eine alte Eiche war. Nachdem ich ein langes Bad genommen hatte, nahm ich Kurs aufs Bett. Bevor ich es aber erreichte, klopfte es in jener bestimmten, knöcheligen Art an der Tür, in der Familienmitglieder an die Tür klopfen. Eine Art, die einen nie zweifeln lässt, wer da klopft, aber immer, ob man Lust zu öffnen hat oder nicht.
Meine Eltern standen Schulter an Schulter in der Tür. Eine massive Front, bereit, sich hinein zu quetschen, als ob sie es hindurch schaffen müssten, bevor sich das große Maul der Tür wieder schloss. Sie hatten die Angewohnheit, samstags unangemeldet zu Besuch zu kommen, wenn sie eh einkaufen waren.
„Wo ist mein Enkelkind?“, fragte meine Mutter.
„Sie ist mit Mattis zum Wasser gefahren um Enten zu füttern. Ihr hättet ja anrufen können, bevor ihr kommt.“
„Nun ja, wir dachten ja, ihr wärt zu Hause.“
Ich habe immer die Vorwürfe, die ich in der Stimme meiner Mutter hörte, ignoriert. Das bedeutete, dass ich ihr selten antwortete. Und als da meine Mutter fast immer redete, schwieg ich fast immer. Sie warf einen Blick auf das ungemachte Bett im Schlafzimmer.
„Das klingt ja toll, wärst du nicht gerne mitgegangen?“
„Ich reise heute Abend nach Norwegen, ich muss also noch ein bisschen packen.“
Sie versuchte, den Blick meines Vaters zu fangen. Er war blasser als sonst. Nichts beeinträchtigte seinen Teint. Weder Frost noch Hitze. Aber obwohl er ungewöhnlich blass war, konnte er immer noch etwas blasser werden.
„Warum fährst du jetzt rauf?“, fragte sie im selben nachsichtigen Tonfall, den man anwendet, wenn man mit einem Kind spricht.
„Ich will nur Anders und Hilde bei ein paar Problemen helfen“, antwortete ich sanft, aber ihre ungesagten Worte übertönten meine, und anstatt zu antworten, verzog sie unzufrieden das Gesicht. Diese Unzufriedenheit ist nur das Vorstadium zu dem, was ich die Verschmähung nenne. Die Verschmähung ist ein bösartiger Dämon, der sich blitzschnell, vom Inneren meiner Mutter ausgehend, auf alles um sie herum ausbreitet. Ich hasse die Verschmähung, ziehe sie aber dem ewigen Schatten, der sonst über ihr hängt vor; ziehe sie den Tagen, in denen ihr Blick ein ausgetrockneter See ist, vor.
„Ist Mattis dann zu Hause, um auf Selma aufzupassen?“
„Ja, selbstverständlich ist er dann zu Hause.“
Auf der Stirn meines Vaters zeichnete sich eine tiefe Furche ab. Viele Jahre lang hatte er keinen anderen Kontakt zu seinem erwachsenen Sohn gehabt als den, der über mich lief. Nichts konnte missglückter sein als das Verhältnis, aus dessen Asche Anders erstanden war, und kein Kind könnte unwillkommener sein als er es gewesen ist. Aber Anders existiert, und Anders hat einen Vater, und mein Vater hat einen Sohn, der Anders ist, und so kann man gewisse Dinge nicht ändern.
„Das Schlimmste ist nicht, an den Fehler zu denken“, hat mein Vater einmal gesagt. „Es ist immer ein Verbrechen, sein Kind zurückzulassen, aber das Schlimmste war der Stich, den ich für den kleinen Kerl fühlte, als er auf der Entbindungsstation in meinen Armen lag.“ Er hatte keinen ähnlichen Stich gefühlt, als seine späteren Kinder geboren wurden, fügte er hinzu und schickte einen Blick in meine Richtung. Aber da er trotz des Stiches dem Kind den Rücken zugewandt und es verlassen hatte, betrachtete er Anders als handfesten Beweis für alles, zu dem man nicht imstande war. Anders war sein Unvermögen. Viele Jahre schien es so, als würde es ihm physische Schmerzen bereiten, seinen Sohn anzusehen, aber mit der Zeit war eine befreiende Gleichgültigkeit von Anders‘ Seite langsam über meinen Vater gekommen. Jetzt sind es nur ich und der schwache Klang der Worte Vater und Sohn, die die beiden zusammenhalten.
„Wieso investierst du so viel Energie in dieses Paar, Anna? Ich verstehe das nicht.“ Murmelte er und suchte den anerkennenden Blick seiner Frau.
Wenn ich meinem Vater etwas sage, klingt es einfach anders, als es gemeint ist. Wir werden ganz einfach in endlose Reigen umeinander hineingesogen. Eine Frage zu seinem Leben und Lebensstil wendet sich unmerklich in der Luft und wird zu einem Verhör dritten Grades, und die Bitte um seine Meinung bezüglich einer Angelegenheit verwandelt sich in ein hilfloses Flehen. Eine nett gemeinte Handbewegung schubst ihn weg, und wenn ich ihn von mir wegstoße, springt er zurück in mein Blickfeld wie ein überspanntes Gummiband. Je härter ich kämpfe, um die sich zuschnürenden Bänder zwischen uns zu lösen, desto strammer werden sie, und wenn ich versuche sie zu straffen, geben sie nach.
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