Unsere Blicke trafen sich. Er sah gequält aus. Ich glaube, er dachte dasselbe über mich, allerdings ohne den Gedanken zu Ende zu verfolgen. Für einige Menschen ist es einfacher, ihr ganzes Leben lang einen schweren Wagen vor sich herzuschieben, als stehenzubleiben und sein Gewicht zu verringern.
Mein Vater hat sein Leben dem Schutz des literarischen Erbes gegen die Verderbnis der Gegenwart und verrohende menschliche Ansichten geweiht. Er benutzt seinen eigenen kleinen Buchverlag als Hochburg für dieses Projekt. Es kann vorkommen, dass er sich bei festlichen Gesellschaften als einen einsamen Wächter der Literatur bezeichnet, aber wenn man ihn nachher so nennt, wird er wütend wie ein Kaktus. Es gibt vieles, was ich von meinem Vater nicht weiß. Ich weiß nicht, wie viele Freunde er hat, und ob er mit denen, die er hat, spricht. Ich weiß nicht, wovon er träumt, und ich weiß nicht, was er fürchtet. Der wesentliche Teil seiner Welt geht mich nichts an.
Als ich Kind war, empfing er mich in den Arbeitszeiten nur zu Besuch, wenn ich mit Zeichensprache kommunizierte, denn er duldete keine Störungen. Trotzdem liebte ich es, in seinem Büro zu sein. Es hat schiefe Wände und liegt in der Vesterbrogade. Ich bin oft nach der Schule mit dem Fahrrad dahingefahren um in dem grünen Plüschsessel in der Ecke zu sitzen, lauwarme Cola aus dem Bierkasten hinter der Tür zu trinken und mir die Bücher anzusehen. Das feierliche, kitzelnde Gefühl, ein knisterndes neues Buch zum ersten Mal zu öffnen. Der Stolz im Gesicht meines Vaters.
„Meine Arbeit ist wichtig, Anna“, sagte er immer, wenn er sich am Feierabend ein Bier öffnete. „Wichtiger als du dir vorzustellen imstande bist. Ich leiste dem gnadenlosen Angriff der modernen Welt auf alles Geistvolle Widerstand, ich widerspreche den Sintfluten talentlosen Nonsenses, oberflächlichen Geschluders, gleichgültigen Palavers und unseriösen, nabelschauenden Blödsinns, mit denen die Horde berieselt wird.“
Ich nickte und errötete vor Freude darüber, dass er mir so feine Worte mitgab. Aber ich sagte nichts, weil ein Kind solchen Aussagen nicht viel entgegenzusetzen hat. Danach, als wir nebeneinander auf dem Fahrradweg nach Hause fuhren, kribbelte mein ganzer Körper vor Glück, weil er so mit mir gesprochen hatte. Als hätte er ganz vergessen, wer ich war. Als ob nichts zwischen uns stünde.
Das erste, was er machte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war ins Wohnzimmer zum Bücherregal aus dunklem Eichenholz an der Wand zu gehen. Ab und zu stellte er ein neues Buch hinein, und andere Male nahm er eins heraus. Das Regal, das sich mit der Zeit über alle lebenswichtigen Organe des Hauses ausgebreitet hatte, war mit sorgsam gesammelten Ausgaben der größten Meisterwerke der Literatur gespickt, ein goldgeränderter Klassiker nach dem anderen. Ich hatte vor langer Zeit aufgegeben, mich mit den Büchern meines Vaters zu messen. Am nächsten konnte ich ihm kommen, wenn ich unter der grünen Leselampe auf dem Børge-Mogensen-Sofa saß und ihm über die Schulter blickte, wenn er las. Das störte ihn nicht. Ab und zu konnte es ihm in den Sinn kommen, etwas leise vorzulesen. Lachen. Mich durch den Text hindurch einverstanden anzugucken und mir den Kopf zu tätscheln. Das waren festliche und seltene Augenblicke, die immer unterbrochen wurden. Entweder dadurch, dass meine Mutter klappernd durch den Raum ging, oder dadurch, dass er schlichtweg aus dem Konzept gebracht wurde. Und dann war er weg. Wie ein Blitzen am Sternenhimmel verschwand er, wurde abgelenkt, sah an mir vorbei, durch mich durch, bekam glasige Augen.
In den letzten Jahren hat sich der Abstand zwischen uns verfestigt. Er ist in unserem Blick, in der Berührung, wenn wir einander streifen. Er lauert in jedem Satz, der gesagt wird. Er hat sich wie eine unsichtbare Mauer aus Glas errichtet, gegen die wir immer laufen, wenn wir versuchen uns einander zu nähern.
„Warum fragst du ihn nicht einfach, wer er ist?“, hatte Mattis einmal gefragt. Aber ich schüttelte nur den Kopf, denn derartigem kann man sich nicht nähern, und wenn man das nicht versteht, versteht man nichts.
Es war deutlich, dass meine Eltern nicht vorhatten, sofort wieder zu gehen. Es hatte zu regnen begonnen. Sobald die ersten Tropfen gegen die Scheibe prallten, verschwand das Licht aus dem Zimmer hinter einem Gürtel dunkler Wolken. Meine Mutter tänzelte durch die Wohnung. Ab und zu blieb sie ein paar Sekunden bei einem Gegenstand stehen, als ob er sie an etwas erinnern würde. Ich ließ mich nicht von dem sichtbaren Ekel beeinflussen, der sich in ihrem Gesicht zeigte, als ihr Blick auf das Küchentuch fiel, das gräulich und glitschig auf dem Grund der Spüle lag. Ich guckte weg, konnte aber hören, wie sie es in dem Mülleiner warf und den Deckel zuknallte. Meine Mutter versteht mehr, als man glauben würde, aber sie lässt es sich selten anmerken. Sie hat sich entschlossen, in die andere Richtung zu gucken und sich ewig selbst zu übertönen. Meinen Vater machen ihr Lärm und Geklapper oft wütend, aber er sagt nie etwas. Es ist viel einfacher eine Augenbraue hochzuziehen und es geschehen zu lassen. Einfacher und natürlicher.
„Dass die kleine Selma ihre Mama jetzt nur nicht zu sehr vermisst, jetzt, da sie einfach so wegfährt“, sagte meine Mutter in einem Tonfall, der zwei Dinge darüber, wie sie die Welt sieht, in der sie lebt, offenlegt: Das eine ist, dass immer jemand Schuld ist. Und das zweite ist, dass es immer schade um jemanden ist.
„Warum muss immer jemand schuld sein, Mutter?“, rief ich einmal. Ich war vier, fünf Jahre alt, kann mich aber daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich stand vor der offenen Autotür auf der Straße mit den Einfamilienhäusern und rief es unverhohlen heraus. Sie hatten sich im Auto gestritten, meine Eltern. So sehr gestritten, dass die Worte aufhörten Worte zu sein, und die Stimmen ihre Hälse heiser rissen. „Das Ganze ist deine Schuld“, hatte meine Mutter meinem Vater mit einem Messer in der Stimme zugerufen. Schuld. Schuld. Schuld. Meine Mutter ist besessen davon, die Ursachen der Dinge zu benennen, das zuzuordnen, was nicht zugeordnet werden kann, und jemandem die Schuld zu geben.
Seit der Scheidung besuche ich eine Psychologin. Sie hat sehr viel Gewicht darauf gelegt, dass es just diese Worte waren, die ich an diesem Tag benutzt habe. „Das sind bedeutsame Worte“, sagte sie. Man sollte niemals ein gutplatziertes Warum unterschätzen. Sie sprach sehr langsam, die Psychologin. Die. Worte. Haben. Es. Sicherlich. Nicht. Eilig. Damit. Aus. Ihrem. Mund. Zu. Kommen. Es war nicht so sehr das, dass mein Vater sich entgegen jeder Gewohnheit meiner Mutter zuwandte und sagte: „Ja, das, was Anna sagt, ist richtig, warum muss immer jemand schuld sein?“ Nein, das wirklich Bedeutungsvolle, meinte die Psychologin und legte den Kopf ein wenig schräg, war, dass ich das eine Mal imstande gewesen sei, das zu sagen. Dass ich es nie wieder gesagt habe. „Das ist kein gesundes Zeichen“, sagte sie, dass ich danach aufgegeben habe. Das war ein Fingerzeig, dass es in mir vieles gibt, was nicht zu Gedanken werden will.
Zu Gedanken werden, dachte ich und nickte gedankenverloren. Es ist nicht einfach, aus Dingen Gedanken zu machen, und je mehr man darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es. Plötzlich begann ich zu weinen, und das fühlte sich so befreiend an, dass ich nicht wieder aufhören konnte. Das war offensichtlich eine gute Sache. Die Psychologin reichte mir jedenfalls eine Hand, und wenn es auch nur war, um mir ein Kleenex anzubieten, fühlte es sich gleichwohl an wie eine ganz neue Welt, die sich öffnete.
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